Streikt der Ossi, wird der Wessi ein bisschen doof

Ob pro oder contra Lokführer-Streik, manch eine Bemerkung, die in diesem Zusammenhang fällt, ist tief geprägt von anti-ostdeutschen Ressentiments und schlichter Arroganz. Ein Kommentar.

Ist der Titel ein wenig drüber? Hm… `tschuldigung oder doch eher #sorrynotsorry?! Nun mag eine jede und ein jeder von dem 48-Stunden-Streik der Lokführer-Gewerkschaft GDL, der in der vergangenen Nacht um 2 Uhr auch für den Personenverkehr der Deutschen Bahn begann, halten was sie oder er will. Naturgemäß gehen die Meinungen hier auseinander, Für und Wider lassen sich finden und wer persönlich betroffen ist, bei denen mag sich Verständnis mit Wut mischen. 

Ressentiments und Arroganz

Es soll hier aber nicht um Argumente für oder gegen diesen Streik gehen, sondern um den Umgang im Ton mit diesem. Dass es insbesondere in den Kommentaren und Leitartikeln auch mal ein bisschen polemisch und zugespitzt sein darf – geschenkt. Ab und an mal einen rauszuhauen, das soll ruhig passieren, wir nehmen uns da auch nichts. Es gibt aber durchaus Dinge, die von tiefsitzenden Ressentiments, ausgeprägter Ignoranz und arger Arroganz geprägt, dabei tief verletzend, unzutreffend und noch nicht einmal im Ansatz pointiert sind. 

So einen Beitrag konnten wir heute Morgen im generell durchaus geschätzten Handelsblatt Morning Briefing vom Handelsblatt Senior Editor (aka leitenden Redakteur) Hans-Jürgen Jakobs lesen. Jakobs nennt den Bundesvorsitzenden der Gewerkschaft Deutscher Lokführer, Claus Weselsky, hier unter anderem einen „Gruppen-Egoisten“ was nun erst einmal griffig klingen mag aber eine hohle Worthülse ist, die irgendwie derb klingen soll und auf jede im Gruppensinne handelnde Person, die aber meinem persönlichen Anliegen entgegensteht, bezogen werden kann. Sei’s drum. 

Viel schlimmer ist der eigentliche Beginn der Morgenlage: „Guten Morgen liebe Leserinnen und Leser, der Klassenkampf sächselt wieder.“ Bitte was?! Hier wird sofort klar gemacht: Wieder mal ein unzufriedener Ossi, der es „denen da oben“ mal richtig zeigen will! Und dann will der „in Dresden geborene Chef der Lokführergewerkschaft GDL – wie schon 2015 – per Streik mehr Geld für seine Klientel herausholen.“ How dare he?! Wissen wir schlauen, immerzu fairen Westdeutschen doch alle, dass der gemeine, neidische, gern faule Ostdeutsche sich den Streik ausgedacht hat, um gut funktionierende Abläufe zu stören! So jedenfalls lässt Jakobs es klingen.

Intellektuell unterfordernd

Darüber hinaus bezeichnet der gebürtige Wiesbadener Hans-Jürgen Jakobs den durchaus streitbaren und sicher nicht immerfort sympathischen 62-jährigen Weselsky noch als „seniorig“ (Jakobs wird in diesem Jahr 65), „von sich selbst überzeugt“ (auch geschenkt, ist er sicherlich, sollte man in einer solchen Position jedoch besser sein) und „vielleicht auch berauscht“ (fragt sich: vielleicht ähnlich berauscht wie Jakobs von seiner Abrechnung mit so einem Ossi, der es zu was gebracht hat?) und vergisst nicht zu erwähnen, dass wir uns nun nachhaltig an den „Weselsky-Sound erinnern“ würden. 

Er schließt seine zwei intellektuell unterfordernden dafür umso übergriffigeren Absätze, die darüber hinaus ein seltsames Demokratieverständnis vermitteln, mit den Worten, dass irgendjemand dem „in der DDR aufgewachsenen Lokomotiv-Helden“ eine einfache Wahrheit beibringen müsse: „Gruppen-Egoismus hat mit Solidarität so viel zu tun, wie DB mit Pünktlichkeit.“

Dass Jakobs wohl kein Fan von Streiks ist, bitteschön. Dass er den Zweck einer Gewerkschaft womöglich aber auch nicht ganz durchdrungen hat, egal. Dass er auslässt, dass in einer Befragung immerhin 95 % der GDL-Mitglieder für den Streik votierten, meinetwegen. Dass er, um das zu vermitteln, aber nicht nur eine Person, deren Motive er lediglich in Selbstprofilierung zu sehen scheint, sondern gleich einen ganzen Teil Deutschlands attackiert, älteste Klischees mit dem Vorschlaghammer raushaut, andere zwischen den Zeilen durchklingen lässt und das alles in einer Zeit, in der sich der Bau der Mauer zum sechzigsten Mal jährt, ist eine besondere Form von zynischer Abgehobenheit und einer selbstbeschädigenden Schlichtheit.

Vielleicht wirft Hans-Jürgen Jakobs einmal einen Blick in das von Freya Klier herausgegebene Buch Wir sind ein Volk! – Oder? oder auch in das jüngst erschienene, von der in Ostdeutschland geborenen und nun seit geraumer Zeit für die westdeutsche Süddeutsche Zeitung arbeitenden Journalistin (ja, ja, das passiert in der Tat…) Cerstin Gammelin geschriebene Die Unterschätzten – Wie der Osten die deutsche Politik bestimmt (unsere Besprechung folgt). Alternativ funktioniert natürlich ebenso gesunder Menschenverstand, auch dazu gibt es zahlreiche Veröffentlichungen. 

AS

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