Moi, ossi?!

Es kam schon einige Male vor, dass mir, einem gebürtigen Bayern, dessen Heimat geografisch gesehen weiter östlich liegt als Leipzig, eine gewisse Überheblichkeit in meinem Denken und Sprechen über Ostdeutschland und seine Bewohnerinnen und Bewohner vorgeworfen wurde. Vermutlich haben diese Vorwürfe eine gewisse Berechtigung, waren (und sind) doch „die Preißn“ immer schon ein Feindbild für alle Bayerinnen und Bayern gewesen (ein Gruß geht an Markus Söder und allgemein die CSU), die „Ossis“ hingegen waren sowieso nochmal ganz anders. Und das nicht im positiven Sinne…

Folgerichtig ja, richtig nein!

Wie so ziemlich jede und jeder bin ich das Produkt meiner Sozialisation und meiner Erziehung. Und da ist es nur folgerichtig, dass sich auch eine gewisse Arroganz gegenüber dem Osten in meinem Denken und Sprechen ausdrückt. Genauso wie eine latente Ablehnung von Nicht-Heteronormativität und vielfach auch die Angst vor Fremdem/n (wobei sich die letzteren beiden Punkte zwischenzeitlich glücklicherweise erledigt haben, wie ich meine).

Folgerichtig ja, richtig nein! Natürlich ist es vollkommen inakzeptabel, Menschen wegen ihres Geburtsorts, ihrer Sozialisation oder ihres Namens pauschal vorab abzuurteilen, ohne sie zu kennen oder sich mit ihnen auseinandergesetzt zu haben. Wie weit das im schlimmsten Falle führen kann, sehen wir in der laut Putin angeblich „von Nazis regierten“ Ukraine. Ähem, ja…

Eine permanente Abwertung

Wie dem auch sei, es scheint, dass ich mit meiner vorschnellen Aburteilung „des Ostens“ nicht allein bin (dezente, aber unbegründete Erleichterungund und ganz aktuelle Grüße an Mathias Döpfner). Der in Leipzig lehrende Literaturwissenschaftler Dirk Oschmann attestiert der gesamten bundesdeutschen Debatte über Ostdeutschland, dass diese mit Ressentiments gespickt sei, die es ihm und seinen Kindern verunmöglichen, wirklich „in Deutschland“ anzukommen.

In einem viel beachteten Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung Anfang Februar 2022 hat er dies erstmals öffentlich formuliert und seine Gedanken nun noch einmal ausführlicher in einem Buch festgehalten. Der Osten: eine westdeutsche Erfindung ist bei Ullstein erschienen und illustriert auf ganz vielfältige Weise, wie „der Osten“ von den westdeutschen Eliten permanent diskursiv abgewertet wird – nicht selten unbewusst.

Was ist das?

Die Frage danach, was dieses Buch eigentlich ist, stellt Oschmann selbst zu Beginn seines letzten von neun Kapiteln. „Eine Schmähschrift, eine Tirade, eine Litanei, eine Polemik, ein undifferenzierter Redeschwall? Alles zusammen, werden sicher einige behaupten.“ Ich sage mal: Ja, das trifft es in der Tat. Auf bis dahin knapp 180 Seiten schreibt sich Oschmann seinen Frust über den bundesweiten Diskurs von der Seele.

Er deckt auf, wo (quasi überall) Menschen aus Ostdeutschland bereits durch Sprechakte diskriminiert werden, wie ihnen dadurch von vornherein gleichwertige Chancen in Wirtschaft, Verwaltung, Gesellschaft usw. usf. (eine Abkürzungskombination, die sich viel zu selten in Büchern findet, bei Oschmann jedoch mehrfach) genommen werden und wie vielfach hochmütige Eliten des Westens diese Diskurse permanent – und manchmal vielleicht ungewollt – reproduzieren. Ein Gruß geht an die politische Illustrierte DER SPIEGEL, an der Oschmann sich auch abarbeitet.

Wie Diskurse die Wirklichkeit prägen

Ganz der Literaturwissenschaftler, ist es konsequent, dass er sich wieder und wieder darüber auslässt, wie die öffentliche Debatte über „den Osten“ geführt wird und dabei verschiedene Bereiche der Gesellschaft beleuchtet. Wie über Ostdeutschland oder allgemein ein Konstrukt „des Ostens“ gesprochen wird, wie alles mit – wie er es nennt – „dem Osten des Ostens“, also Sachsen, gleichgesetzt wird. Wie die allgemein akzeptierte Ablehnung der Dialekte (und natürlich vor allem des Sächsischen) Menschen, die diese Dialekte sprechen, in ihrem Fortkommen behindert, während Bayerisch (natürlich), Schwäbisch oder Rheinländisch als charmante Mundarten identifiziert werden. Ronny und Mandy haben es eben schwerer als Robert und Maria.

Es geht aber auch um sehr manifeste Unterschiede: Die Verteilung von Einkommen und Vermögen und damit der Chancen im Leben zum Beispiel. Oder die abschätzige Bewertung (oder vielmehr fast vollständige Ignoranz) ostdeutscher beziehungsweise von DDR-Literatur und –Kunst. Oder – auch wenn es banal klingt – die Geschlechterverteilung. Nach einer Art Massenexodus von Frauen nach der deutschen Einheit in den Westen gibt es eben einen massiven Männerüberschuss „im Osten“ – ein Problem, das Mikroaggressionen natürlich fördert und das „der Osten“ jetzt gefälligst mal zu lösen habe.

Zynische Entrüstung trifft einen Nerv

Dies und noch vieles, vieles mehr führt Oschmann an, wenn er sich seinen Frust von der Seele schreibt. Vieles davon klingt ironisch, zynisch, ja fast polemisch. Und dennoch sollten wir uns gewahr sein, dass da jemand schreibt, der täglich diese mehr oder weniger subtilen Diskriminierungen erfährt. Und niemand tut etwas dagegen, sondern belächelt „den Ossi“ halt, wenn er den Mund aufmacht.

Ginge es um die Benachteiligung von Frauen, Menschen mit nicht-heteronormativer geschlechtlicher Identität oder sexueller Orientierung, BIPoC oder andere Minderheiten, dann würden verschiedene Akteure der Zivilgesellschaft direkt aufspringen und sich entrüsten, aber die Abwertung von „Ossis“, naja, das ist ja nicht so schlimm. Insofern trifft Oschmann hier in der Tat einen Nerv – auch bei mir. Auch die Reaktionen auf seinen FAZ-Artikel (die ein ganzes Kapitel ausmachen) belegen das.

Leichte Unsauberkeiten…

So nachvollziehbar seine Kränkung und sein Anliegen sind, an einigen Stellen hat seine Argumentation dennoch leichte Schwächen. Obwohl Oschmann gut mit Zitaten und Fußnoten arbeitet, manche Kleinigkeiten sind dennoch ein bisschen unsauber. Gerade in der ersten Hälfte beispielsweise arbeitet er an ein paar Stellen mit Zahlen oder Behauptungen, die vollkommen plausibel erscheinen (der bereits genannte Frauenexodus zum Beispiel), aber liefert nicht den Verweis auf die (vermutlich existierenden) Studien, die manch einen Fakt belegen würden.

Oder an einer Stelle verweist er darauf, dass die Führungsriege der AfD fast vollständig aus dem Westen käme (die AfD taucht ohnehin erstaunlich wenig auf – in so einem Buch hätte eine Auseinandersetzung durchaus ein klein wenig tiefergehend ausfallen können). Stimmt, aber wenn er die fast durchwegs verblichenen Vorsitzenden der Partei aufführt, sei an Frauke Petry erinnert, die bekanntermaßen aus „dem Osten des Ostens“ stammt. So viel Genauigkeit sollte dann doch sein und das Argument wird dadurch nicht unbedingt schwächer (zumal es die West-Eliten waren, die Petry weggeekelt haben – was Oschmanns Argument ja sogar noch verstärkt).

Es geht um Legitimität und Erwartungshaltungen

Ein letzter Punkt sei an dieser Stelle angemerkt, und zwar explizit aus der Perspektive eines Politikwissenschaftlers (die, wie Oschmann selbst schreibt, er sich bewusst ist, nicht einzunehmen und keinesfalls als Belehrung, sondern vielmehr als Erläuterung und Beitrag zur Debatte zu begreifen ist): Etwas verkürzt gesagt diagnostiziert Oschmann dem Westen eine Art „neokoloniale Attitüde“. Dass der Westen die einzige Wahrheit für sich gepachtet hätte und der Osten diesem Ideal zu entsprechen habe. Den Osten wiederum er- und unterdrückt der Westen mit diesem Anspruchsdenken. Und in Polen und Ungarn – den demokratischen Problemkindern des Kontinents – funktioniere das auf EU-Ebene genauso.

Das stimmt, aber Teil der Wahrheit ist auch, dass Demokratie stets die Frage nach Legitimität stellen muss. Politische Akteure müssen sich im Alltag für ihr Handeln rechtfertigen. Und wenn dieses Handeln beinhaltet, dass beispielsweise (westdeutsche) Steuergelder in den Aufbau „blühender Landschaften“ gesteckt werden, dann muss dies auch vor denen gerechtfertigt werden, die diese Steuern im ersten Schritt entrichten.

Dass hier eine gewisse Erwartungshaltung geschürt wird, dürfte nicht von der Hand zu weisen sein, sondern im Gegenteil, sie ist essenzielles Element einer transparenten Demokratie. Das Problem dabei ist dann eher, wenn überzogene Erwartungen geschürt werden und Politikerinnen und Politiker diesen dann doch nicht gerecht werden (oder es falsch kommunizieren).

Ein historisches Paradox

Mit der deutschen Einheit wurde Deutschland viel geschenkt und auch viel aufgebürdet. Es ist eigentlich ein historisches Paradox, dass hier zwei Staaten zusammengeführt wurden, dadurch aber eine gespaltene Gesellschaft entstanden ist. Da es keine Zusammenführung auf Augenhöhe war – die frühere DDR ist der Bundesrepublik beigetreten –, hat sich eine gewisse Erwartungshaltung entwickelt und verfestigt, die allerdings „den Osten“ allzu sehr einengt und vom Westen als vollkommen legitim hingenommen wird.

Vermutlich müsste an genau dieser Situation gearbeitet werden: Gerade der (auch durch die Arbeitsleistung des Ostens) wohlhabendere Westen hat durch die deutsche Einheit gefühlt (!) nicht viel gewonnen, aber muss dafür etwas abgeben. Und diese Perspektive manifestiert sich im alltäglichen Diskurs über „den Osten“. Vermutlich muss der Westen also aufgrund einer Vereinigung das Teilen neu lernen — oder viel eher, was er darunter zu verstehen meint.

Ertappt

Was er auf jeden Fall tun sollte, ist sich Dirk Oschmanns Worte und Gedanken zu Herzen zu nehmen. In Der Osten: eine westdeutsche Erfindung entlarvt dieser den zu großen Teilen herablassenden Blick, mit dem Westdeutschland „dem Osten“ vielfach begegnet. Durch die permanente Herabsetzung nimmt er ihm so bereits diskursiv die Möglichkeit, die vom Westen selbstgesteckten Erwartungen zu erfüllen.

Ich selbst habe mich bei Oschmanns Lektüre mehr als einmal ertappt gefühlt und vermutlich dürfte es vielen westdeutsch sozialisierten Menschen so gehen. Wenn wir also die Debatte um gleichwertige Lebensverhältnisse, wie sie das Grundgesetz vorsieht, offen und ehrlich führen wollen, dann sollten viele von uns das eigene Verhalten und die eigene Perspektive vielleicht noch einmal hinterfragen. Und gerade dazu bietet Dirk Oschmanns Argumentation eine sehr eindrückliche Gelegenheit.

HMS

PS: Natürlich bin ich beim Abfassen dieses Textes genau in die Falle getappt, die sich hier leicht auftut: Ich habe nur über die mögliche Rezeption von Oschmanns Buch im Westen geschrieben, aber direkt wieder ausgelassen, wie Leserinnen und Lesern mit Ost-Sozialisation es aufnehmen mögen. Angesichts der Länge, die dieser Text erreicht hat (und dass ich aufgrund meiner West-Sozialisation hier an vielen Stellen nur spekulieren könnte und mögliche Leserinnen und Leser „aus dem Osten“ dies als entsprechend übergriffig empfinden dürften), verzichte ich an dieser Stelle auf weitere Ausführungen. Dass ich diesen Makel am Ende dieser Zeilen erkannt habe, sehe ich jedoch als untrügliches Zeichen, dass Oschmanns Seiten mir die nötigen Denkanstöße in die richtige Richtung gegeben haben.

Eine Leseprobe findet ihr hier

Dirk Oschmann: Der Osten: eine westdeutsche Erfindung; Februar 2023; 224 Seiten; Hardcover mit Schutzumschlag; ISBN 978-3-5502-0234-6; Ullstein Verlag; 19,99 € 

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