„Bist du der Schwule?“

Als Das Ende von Eddy 2014 zuerst in Frankreich, dann 2015 auch in Deutschland, erschien, wurde das Buch heiß gehandelt, der 1992 geborene Autor Édouard Louis war der neue heiße Scheiß am Literaten-Himmel. Gefühlt die halbe Welt sprach über das Buch, über Édouard Louis, denn er war ja dieser Eddy und alle waren ganz aus dem Häuschen – selbstredend manch einer, ohne es gelesen zu haben und einfach weil eben alle aus dem Häuschen waren. Dann kam zügig die besorgte Frage auf: Ein-Buch-Wunder oder hat das Substanz? War es nur so gut, weil der Autor so jung und recht fotogen ist? Die Antwort ist gefunden – 2016 erschien das ebenso hochgelobte, erneut autobiografische Im Herzen der Gewalt, 2018 folgte dann Wer hat meinen Vater umgebracht, das wieder einen Bogen zum Erstling schlägt und den Ruf Édouard Louis’ als neue intellektuelle Stimme festigen sollte.

Nun, zum Erscheinen seiner dritten Veröffentlichung als Taschenbuch, nehmen wir uns seiner Bücher an und betrachten sie als eine Art ersten Schaffenszyklus, werden also in weiteren Besprechungen auch von ihm zwischendurch veröffentlichte Texte zu gesellschaftlichen Themenkomplexen einbeziehen und sicherlich auch mal den einen oder anderen Vergleich zum Beispiel zu Didier Eribon ziehen, bei dem er nicht nur Soziologie studierte, sondern dem Louis auch seinen Erstling Das Ende von Eddy widmete, dem wir uns nun annehmen wollen.

Ekel und Scham

Édouard Louis findet in seinem Erstlingswerk seine ganz eigene, mächtige Sprache. In prägnanten Sätzen und mit kurzen Beschreibungen vermittelt er treffend Gefühle und löst beim Leser Gefühlsströme aus. Wir sind irritiert, wenn er es ist. Fühlen uns angeekelt, wenn er seinen Ekel beschreibt. Verzweifeln mit ihm über seine Umgebung. Werden erregt, wenn er es ist. Das ist schon beinahe große Kunst, durch Sprache diese Nähe zu schaffen. Zumal für jemanden, den wir durch das Buch als nicht sonderlich nahbar erfahren. Aber die Offenheit, das Geschehen und seinen Willen, die Wahrnehmung und Analyse des Geschehens, schnörkellos mitzuteilen lässt keine Barriere zu.

Die Erzählung ist nicht nur autobiographisch geprägt, sondern ist viel eher eine autobiographische Reflexion der Emanzipation Édouard Louis, geboren als Eddy Belleguelle im Dorf Hallencourt. Er beschreibt seine Kindheit, Jugend, sein homosexuelles Erwachen, die Quälereien, die er zu durchleiden hatte, teils vergebliche, aber auch nur halbgewollte Ausbruchsversuche, alles natürlich gespiegelt an seiner Umgebung. 

Édouard Louis auf einer Veranstaltung in Warschau, 2019 // © Mariusz Kubik, CC BY-SA 4.0 / https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.en

Das Ende von Eddy kann nicht nur als eine Darstellung seiner frühen Selbstfindung gelesen werden, sondern auch und vielleicht vor allem als Abrechnung mit seiner Herkunft, und zwar speziell mit seinem Vater. Was Louis auch in einigen Gesprächen bejaht hat, dazu aber später mehr. Seine Beschreibung, vom Gefühl zu wissen, dass die Eltern sich für das Kind Eddy schämen, weil er beispielsweise nicht mehr zum Fußballtraining geht (S. 28), ohne Rücksicht darauf zu nehmen, wie ein Kind diese Scham wahrnimmt, nur um dann wieder stolz zu sein, wenn es heißt, der Junge sei gut erzogen und nicht wie die anderen (S. 30) trifft ins Mark. 

Scham durchzieht diese Erzählung ohnehin als roter Faden: die Scham der Eltern für ihren Jungen; die Scham der Mutter, es nicht zu etwas anderem gebracht zu haben; die Scham des Vaters, der zu sein der er ist; die Scham der Herkunft; auch Eddys Scham, der zu sein, der er ist. Doch statt einer Auseinandersetzung mit dieser Scham, wird sie beiseite geschoben. Schuld haben entweder andere (Politik, die „anderen“ Kreise, der Nachbar, etc.) oder die Scham wird weggesoffen, weggebrüllt, weggeprügelt. Außerdem gibt es Leute, ja, bei denen ist es noch schlimmer. So schreibt Louis an einer wesentlichen Stelle: „Dieser Willen, diese stets neue, verzweifelte Anstrengung, immer noch auf jemanden hinabzusehen, der unter einem steht, um sich nicht selbst ganz am Ende der sozialen Leiter zu fühlen“ (S. 88).

Die einzige Scham, die nicht auf Dauer verdrängt oder zu Nebel gesoffen wird, ist eben die des Autors. Er konfrontiert sich mit dieser, wenn auch über den Umweg einer kurzen Resignation und häufig benutzt er erstmal seine Abneigung gegenüber seinem Umfeld um sich von der eigenen Scham abzulenken. Doch letzten Endes, auch nach einem letzten Versuch einer hetero-normativen Gesellschaft zu entsprechen und einer zu werden, der er nicht ist, gelingt ihm der Ausbruch aus dem „Lebensweg [der], […] durch ein Regelwerk vollkommen absehbarer Mechanismen bedingt war, geradezu ausweglos von vornherein festgelegt“ (S. 64).

Keine Parabel ohne Licht

Auf dem Weg dorthin erfährt Eddy nicht nur die lauten Ausbrüche seines betrunknen Vaters, der aber immer darauf besteht, niemals seine eigene Familie zu schlagen. In der Schule erträgt er über Jahre hinweg körperliche Gewalt, auch Hänseleien. Seine erste sexuelle Erfahrung, mit dem Cousin und zwei Kumpels, „Mann und Frau“ spielen, ist dann zwar für ihn erregend und auch beschreibt er eindrucksvoll und recht feinfühlig die Anbahnung der Situation. Letzten Endes ist aber auch das eine Gewalterfahrung, deren Wiederholung er gern zulässt, was sie im Kern aber nicht vom Wesen einer Missbrauchssituation loslöst. Als er dann im Nachhinein denunziert wird, bedeutet das nicht weniger als eine Potenzierung der Gewalterfahrung. 

Ebenfalls stellt Louis sehr interessant dar, wie seiner Familie, der Umgebung, also dem Dorf, der Schule, allen klar ist, inwiefern der Junge „anders“ ist, es aber nie direkt angesprochen wird. Mit Ausnahme von den Schlägern in der Schule, die ihn eben als „Schwuchtel“ zusammentreten, bleibt es immer unausgesprochen. Es wird angedeutet, wenn über Homosexuelle, meist einhergehend mit Großstädtern und Bourgeoisie, gelästert wird und der Blick dabei auf Eddy fällt. Dabei ergäbe das ja alles Sinn – er ist „weicher“, ein wenig effeminiert, dazu still und doch klüger als der Rest. Wenn nicht dazugehören, dann schon ganz. Es wird in seiner Anwesenheit laut über „scharfe Bräute“ gebrüllt (S. 107) und es werden Witze übers Fahrradfahren ohne Sattel gemacht, aber auch vorgeschlagen, dass man „Drecksschwuchteln aufhängen sollte“ (S. 108). Das Bewusstsein ist also da, und man möchte gerade der Familie gar nicht einmal unterstellen, dass sie Eddy für sein Anderssein hassen würden. Eher kommt man hier wieder auf den vorgefertigten Verhaltensmechanismus. 

Doch ist Das Ende von Eddy keine Parabel ohne Licht und Hoffnung. Édouard Louis beschreibt durchaus auch die Momente, in denen ein liebevoller Bezug innerhalb der Familie erkennbar ist, meist allerdings in Gestalt seiner nicht unkomplizierten Mutter, die hin und hergerissen scheint, zwischen dem Wunsch, ihr Junge solle es mal besser haben und eben jenem vorgezeichneten Lebensweg. Wenn man sich als Leser dann auch einmal von Eddys Betrachtungsweise lösen kann und versucht eine objektive Position einzunehmen, liest man auch die durchaus vorhandene Zuneigung des Vaters heraus, zum Beispiel als dieser zu Eddy sagt: „[…] ich hab dich lieb und du bist mein Sohn, trotz allem, du bist mein Großer“ (S. 53). Da wir den Vater bisher primär als saufenden Polterer kannten, fokussieren wir uns dann direkt auf Eddys Reaktion: „Sein ich hab dich lieb stieß mich ab, die Worte hatten für mich etwas Inzestuöses“ (ebd.).

So sehr man diese Haltung verstehen kann, so sehr sieht man auch, dass Eddy hier nicht nur sich selbst, sondern auch der Möglichkeit zur Annäherung an und Auseinandersetzung mit seinem Vater durch ein aggressives Gefühl aus dem Weg geht. Womit er sich dann auch nicht wesentlich vom Rest seiner Familie unterscheidet – Aggression ist Tugend. Diese Härte im Umgang mit seiner Familie und eben insbesondere dem Vater, hat Louis in diversen Interviews zum Buch und darüber hinaus thematisiert. Inzwischen aber sehe er einiges durchaus differenzierter und in seinem oben erwähnten Wer hat meinen Vater umgebracht analysiert er diese Problematik von Neuem, vier Jahre nach dem ersten Erscheinen von Eddy.

Ein Buch also, das es in sich hat. In seiner Darstellung vom Bild einer Gesellschaft, die sich in ihrer Unzufriedenheit eingerichtet hat, ist es deprimierend. In seiner Beschreibung eines Ausbruchs aus dieser vermeintlichen „Geographie der Beziehungen“ (S. 124) ist es Hoffnung, ungebrochener Freiheitsdrang. Seine Sprache erschlägt im besten Sinne; ist mal so analytisch-kühl, dass es einen schaudert; dann wieder so bewegend, dass man vor Fortune über die Worte weinen möchte. Ein großes Buch.

AS

PS: Eine weitere schöne Besprechung findet ihr bei Books are gay as fuck.

Eine Leseprobe findet ihr hier.

Louis, Édouard: Das Ende von Eddy; 6. Auflage, Februar 2019; Taschenbuch, 208 Seiten; ISBN: 978-3-596-03243-3; Fischer Taschenbuch; 11,00€; (eBook: 9,99€, Fischer eBooks ISBN: 978-3-10-403334-1)

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