Von Alexander Schütz
Ich bin keine Frau, kein Popstar und habe keine Kinder und an diesen drei Umständen wird sich in diesem Leben wohl auch nichts mehr ändern. Judith Holofernes ist eine Frau, Popstar und hat zwei Kinder, diese drei Aspekte spielen eine wichtige Rolle in ihrem autobiografischen Buch Die Träume anderer Leute, das im Herbst 2022 im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen ist. Trotz dieser doch sehr starken Unterschiede in unserer beider Leben konnte ich mich oft wiederfinden in dem was sie schreibt, und mehr noch konnte ich ganz viele Lebensweisheiten zwischen den 400 Seiten hervorziehen. Darum möchte ich das Buch auch wirklich allen, allen empfehlen und sehr ans Herz legen. Es ist die ungewöhnlichste und genau darum wertvollste Künstlerinnenbiografie, die ich bis jetzt gelesen habe.
Es war einmal eine Heldin…
Ich erinnere mich noch ziemlich genau an meine erste Begegnung mit Wir sind Helden. Im Musikfernsehen wurden tatsächlich noch Musikvideos gespielt, was bedeutet, es gab noch Musikfernsehen, was heißt, es gab noch Fernsehen. Graue Vorzeit also. Gar nicht grau war hingegen, was dort über den Bildschirm flimmerte. Im Gegenteil: schön bunt, fast quietschend wurde sich da durch das Video zur Single „Von hier an blind“ gesungen. Das gefiel mir sofort. Alles sah leicht selbstgemacht aus, ein bisschen zu fröhlich wirkten die Menschen mit ihren Gummiperücken, man sah ihnen an, dass das, was sie dort taten, Spaß machte, den Schalk fest im Nacken und das Auge mehr als einmal dem Publikum und dem künstlerischen Ernst zuzwinkernd. So als wären sie ganz bewusst kurz vor „cool“ stehen geblieben, um zu sagen „Nö, bis hierhin und nicht weiter“. Da ich bis heute eher Schildkröte als Hase bin, befand ich mich als Jugendlicher so weit am Anfang des Weges, dass ich das „cool“ noch nicht mal mit meinen neuerworbenen Brillengläsern in der Ferne erahnen konnte. Doch die bunten Farben und den Spaß erkannte ich sehr wohl und so wurde „Von hier an blind“ mein erstes, und bis heute schändlicherweise einziges, Album der Helden. Bis heute landet die CD aber immer wieder in meinem Player, besonders wenn zu „Darf ich das behalten“ ausgiebig geweint werden will. Erst mit diesem Buch, Die Träume anderer Leute, sollte ich Judith Holofernes wieder begegnen und was für ein schönes Wiedersehen es geworden ist.
Kindersichere Tourbusse, leichte Schwerter und…Saarbrücken?
Die liebe Judith war so lieb und hat mich genau dort abgeholt, wo sie mich hat stehen lassen, nur ein kleines bisschen cooler, weiß ich immer noch nicht weiter, weiß ich immer noch nicht, wo ich bin. Dafür geleitet sie mich und alle Lesenden mit einem sanften Einstieg, der trotzdem klar macht, worauf man sich einlässt, in die titelgebenden Träume anderer Leute. Das Buch beginnt nämlich mit einem Traum von ihr selbst, über Zyankali. Eine Seite gelesen und schon war ich verfallen. Ich meine versponnene Träume und Gift? Wie für mich gemacht.
Es beginnt mit dem Ende. Dem Ende der alten Band. In Rückblicken erzählt die Künstlerin von schwierigen Entscheidungen, sei es nun, ob man mit Kind, bzw. Kindern, auf Tour geht und wenn ja wie, ob man auf seinen Körper hören soll und Konzerte absagt oder, im wahrsten Sinne des Wortes, auf die Bühne humpelt und die Zähne zusammenbeißt oder wann man schließlich den Schlussstrich zieht und sagt: Das war’s jetzt. Ich war ehrlich gesagt sehr überrascht, wie uneitel ehrlich Holofernes doch ist. Sie zeichnet den Weg zu ihrer Solokarriere bis zu ihrem heutigen Punkt sehr genau nach, inklusive aller Höhen und Tiefen, und lässt Ihre Fans und die Lesenden unglaublich nahe an sich heran. Das ganze aber nie effektheischerisch oder, um auf die bekannte, peinliche „seht ihr, ich bin zwar prominent aber genau so wie ihr“-Masche, Mitleid zu generieren. Besonders bewusst wurde mir dies immer, wenn sie über ihre Gesundheit schreibt. Als Kind schon von allerlei Allergien gebeutelt, kämpft sie auch als erwachsene Frau immer wieder mit körperlichen Rückschlägen die ihr Schaffen beeinträchtigen. So wusste ich zum Beispiel nichts über Versicherungen, die die Kosten einer krankheitsbedingten Tourabsage abdecken und dass diese in enorme Höhen schnellen können, falls dieser Fall zu oft eintritt. An anderer Stelle schreibt sie, wie sie sich ärgert, wenn gesagt wird, dass sie oft krank ist, sie selbst aber weiß, dass das gar nicht mehr so oft der Fall ist, wie es einmal war. Nur ein Satz, über den ich dennoch nachdenken musste, denn wie oft und schnell ist man selbst mit seinem Urteil ohne die Person und ihre Geschichte richtig zu kennen. Es sind solche kleinen Anekdoten und Lebensweisheiten, aus denen ich beim Lesen sehr viel für mich selbst mitnehmen konnte.
Natürlich ist auch das Offensichtliche, ihr Weg zur Solokünstlerin, wahnsinnig spannend. Zu Beginn, mit Veröffentlichung ihres Soloalbums Ein leichtes Schwert, ist da natürlich auch der Druck, eine Erwartungshaltung zu erfüllen. An Publikum, Management, Plattenfirma und natürlich sich selbst. Auch hier ist die Autorin auf sympathische Art gnadenlos ehrlich. Eine Anekdote amüsierte mich persönlich besonders, wenn sie schreibt, dass Saarbrücken ihr Waterloo ist. Dort lief der Vorverkauf nämlich bei allen Konzerten mehr als schleppend. Liebe Judith, du hast Recht, Saarbrücken ist eine tolle Stadt mit ebensolchen Leuten, aber wir Saarländer sind oft auch schwer zu mobilisieren, verblüffenderweise erst recht, wenn etwas praktisch direkt vor unserer Haustür stattfindet. Nächstes Mal werde ich da sein und vorher ordentlich Werbung machen. Versprochen.
Aber letztendlich hat sie ihren Weg gemeistert. Nach weiteren Rückschlägen vollzieht sie schließlich einen harten Cut und als es so weit war, wollte ich ihr beim Lesen einfach richtig frohen Herzens und ganz ehrlich dazu gratulieren. Judith schlägt Holofernes den Kopf ab, natürlich nur bildlich gesprochen. Sie lässt die alte Judith zurücktreten. Dafür betritt dann die neue Künstlerin die etwas kleinere, aber auch feinere, Bühne. Sie ist immer noch Judith Holofernes doch sie verweigert sich dem Star- und Kommerztrubel völlig, sagt Verkaufszahlen Lebewohl und findet ihr Zuhause im Crowdfunding bzw. Patreon. Dort können Fans sie und ihre Kunst unterstützen und geben so, in einem schönen emanzipatorischen Akt, der Kunst ihre Bedeutung zurück: als Geben und Nehmen von Künstler*in und Wertschätzenden.
„Dass man um etwas trauern kann, ohne es wiederhaben zu wollen, ist ein Konzept, das sich nicht vielen Leuten erschließt.“
Judith Holofernes in Die Träume anderer Leute
Das ist ein tolles Zitat und nur eine der vielen wunderbaren Weisheiten, die ich aus diesem wunderbaren Buch einer großen und großartigen Künstlerin mitnehme.
David Lynch, Amanda Palmer und…Helene Fischer?
Man sieht, ich bin ein Fan, immer noch, oder wieder? Neben dem wunderbaren, wertvollen Inhalt ist die Sprache, in der dieser verfasst ist, ein echtes Highlight. Holofernes schreibt, dass sie als Kind und Jugendliche viel gelesen hat, was auch ihrer Mutter (Übersetzerin) zu verdanken ist. Das ist eine wunderbare Werbung, wie Lesen den Umgang mit Sprache fördert, denn was und wie sie hier schreibt, ist so wahnsinnig schön wie einer ihrer vielen, tollen Songs. So verspielt, gekonnt und trotzdem geerdet und sympathisch wurden mir lange keine Buchseiten mehr gefüllt. Irgendwann wollte ich einfach nur noch ihre Stimme in meinem Kopf hören, es war fast egal, was sie erzählte. Aber nur fast, denn ich erfreute mich natürlich sehr an den kurzen „Gastauftritten“ von David Lynch (einen großartigen Filmgeschmack hat sie also auch noch, was für eine Frau). Außerdem ist ihre Freundschaft und ihr Austausch mit Amanda Palmer von solch einer Empathie und Zuneigung geprägt, dass sie sich inklusive der guten Laune einfach auf die Lesenden übertragen muss. Und wer jetzt immer noch überzeugt werden muss, dem oder der kann ich versprechen, dass sich eine wunderbar komische Anekdote über eine Echo-Verleihung im Buch findet und sich noch nie so witzig, hintergründig und dennoch nicht boshaft über Helene Fischer und Konsorten lustig gemacht wurde. Köstlich.
Judith Holofernes ist mit „Die Träume anderer Leute“ ein wunderbares Buch gelungen, das ich wirklich allen empfehlen kann. Es ist atemberaubend sympathisch, wunderschön geschrieben, voller Leben und Lebensweisheiten und letztendlich eine große Verbeugung vor dem „weniger wollen dürfen“, eine noch größere Verbeugung vor der Kunst und ein Appell, seine eigenen Träume zu träumen, endlich.
Unser Gastautor Alexander Schütz wurde 1985 geboren und ist gelernter Buchhändler – und Horror-Enthusiast in jeder Form. Auf Instagram betreibt er die Kanäle bookhouse_boy_from_twin_peaks und lets_scare_alex_to_death.
Eine Leseprobe findet ihr hier.
Judith Holofernes: Die Träume anderer Leute; September 2022; 416 Seiten; Hardcover mit Schutzumschlag; ISBN 978-3-462-00367-3; Kiepenheuer & Witsch; 24,00 €
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