Niemals gehen sie so ganz

„Ich hole mit dem Kind im Arm einen Joghurt aus dem Kühlschrank, und das Kind dirigiert mich zum Bett, um ein Kuscheltier zu finden, den Maulwurf, den es zwischen unsere Körper steckt. Meist gewinnt das Kind, ich löse mich von ihm.“ Ich dachte diese Rezension zu Maren Wursters Papa stirbt, Mama auch etwas zusammenhanglos mit diesem Zitat zu beginnen, denn wer könnte schon etwas an Maulwürfen als Kuscheltiere auszusetzen haben?

Eine literarische und persönliche Verabschiedung

Freilich ist es nicht völlig zusammenhanglos, stammt es doch aus dem zu betrachtenden Buch. Zusätzlich handelt dieser literarische Essay, wie der Titel es uns schon deutlich macht, vom Loslassen, vom Prozess des Abschiednehmens, der aber manchmal weniger Prozess als eher plötzliches Ereignis ist. Maren Wurster jedenfalls kann nicht in einem herzergreifenden Dialog von ihrer schwer demenzkranken Mutter, die im Pflegeheim betreut wird, Abschied nehmen.

Ihr krebskranker Vater auf der Intensivstation, des Lebens müde, erschöpft und matt, aber noch bewusster mit der Welt verbunden, ist da schon eher Ansprechpartner. So kommt es wohl auch, dass Wurster ihren nüchtern formulierten Text an den Kurt, den Vater, den Papa richtet, was ihn sehr unmittelbar sein lässt. Zwar fühlen nie wir uns durch ein „Du“ adressiert, wohl haben wir aber den Eindruck sie zu begleiten. Nicht nur das Loslassen, auch das Erinnern, die Autorin denkt an Urlaube in Spanien, an einschneidende Erlebnisse; zieht andere sich erinnernde Menschen wie Roland Barthes, Didier Eribon, Michel Foucault, Maggie Nelson oder Hervé Guibert heran, wenn sie an eigenen Erinnerungsmodellen, am Erschrecken und Erkunden arbeitet.

Erinnerungsfotos und Fotos in Erinnerungen

Es soll hier nicht zu viel über die verschiedenen Momente von Reflexionen, Versuche von Einordnungen, Erinnerungen – vollständigen und nebelhaften -, kritischen und lobenden Gedanken zum Gesundheits- und Pflegesystem – weniger im politischen, eher im alltäglichen Sinne – oder der immer wieder ein Stück erweiterten Familiengeschichte Maren Wursters beziehungsweise und eben unbedingt auch ihres Papas und ihrer Mama erzählt werden.

Denn, wie Wurster sich entschieden hat, den Text, der bei Hanser Berlin erschienen ist, zwar chronologisch entlang der Geschehnisse und ihres Umgangs damit aufzubauen, ihn jedoch immer wieder mit Kapiteln der Erinnerung zu durchbrechen, die entweder Geschichten oder Gedanken aus dem Heute aufgreifen oder auf diese hinführen, zieht uns gänzlich in dieses Geschehen hinein, nicht ohne dass auch wir mitdenken und erwägen. Für sie, aber auch für uns. Und je weniger die Leser*innen anfangs wissen, wie sich in diesem literarischen Memoire die Dinge fügen, desto besser. Desto erhellender, lebendiger, auch tröstlicher und eindringlicher ist es.

„Ich verliere euch. Immer wieder zum ersten Mal.“

Nicht zu viel gesagt ist dadurch, dass der Titel Papa stirbt, Mama auch sehr bewusst auf die Bevorzugung ihres Vaters anspielt, was an mancher Stelle wundert. Auch Maren Wurster wundert sich, wenn auch etwas anders: „Nach den Jahrzehnten des Raubbaus an deinem Körper hat mich all die Jahre gewundert, dass du noch da warst.“ Ein Raubbau, der mal aufhört, aber nie für immer. Die Mutter dabei immer etwas entrückt in Bezug auf den Vater, immer etwas emotional abwesend im Verhältnis zur Tochter. Beide Eltern also schwierige Menschen, aber geliebt und einander liebend, und, das lässt die Autorin uns wissen, ist auch sie nicht einfach. Im Weiteren noch ein möglicher Grund den Vater zu adressieren: Ihre unnahbare Mutter hält auch sie in den Beschreibungen auf Abstand. 

Dabei ist dieses Zurückdenken, die Vergangenheit abwägen und bewerten, mitnichten eine Abrechnung, wie wir sie etwa von Édouard Louis in Das Ende von Eddy kennen; überhaupt geht Papa stirbt, Mama auch eine solch glühende Wut ab. Dabei sei mitgedacht, dass auch nüchterne Sprache von harter Wut erzählen kann. Das ist hier nicht so. Hier sind es Erleben, Erkenntnis und Verarbeitung, die im Vordergrund stehen, nicht Sturm und Drang nach einem Ventil.

Was ich für mich und euch zusammenfüge

Natürlich ist dieser Text ein Ventil, Verarbeitung all dessen. Dieses „Hätte es anders verlaufen können, wenn…?“ taucht wörtlich im Buch nicht allzu oft auf, schwebt aber über fast allem. Es schwebt auch über den Erinnerungen: „Hätte es anders sein können, wäret ihr…?“ – immer ist es präsent, meist subtil, aber es kann unmöglich weggedacht werden. Dieses Ringen um Erinnern, Verarbeiten und Ver- oder Wegdrängen beschreibt sie nicht zuletzt selbst, wenn sie den Philosophen Paul de Man heranzieht, der in Autobiographie als Maskenspiel über autobiografisches Schreiben im Zusammenhang mit Leben meinte, dass zwischen Text und Leben eine „Struktur wechselseitiger Spiegelungen“ entstünde und sie fortfährt:

„Zwar verdrängt der autobiografische Text diese Struktur, was im Übrigen auch dieser Text tut, indem er vorgibt, aufzuzeichnen, was geschehen ist. Zugleich produziert er sie erst, indem auch in meinem Schreiben über euch, über die Erlebnisse, die ich ineinanderfüge, entlang des Verlassenwerdens oder auch nur assoziativ, etwas entsteht, ein Zusammen, ein Bild, eine Wahrheit, die vorher nicht da waren.“

Maren Wurster, Papa stirbt, Mama auch; S. 154

Was wir für uns zusammenfügen

Gleiches mag und kann auch über die solche Texte Lesenden vermutet und gesagt werden. Selten wählen wir die autobiografischen oder autofiktionalen Texte, die wir lesen, denen wir unsere Zeit schenken, nur nach dem mit „auto“ beginnenden Schlagwort aus, sondern nach dem Thema, das das Buch trägt, der Person, die dahintersteht und der zu erwartenden Erkenntnis … oder eben der Verarbeitungsmöglichkeit, die der Text uns bieten mag.

Jede*r die oder der schon einmal Entscheidungen im Fall von Pflege und Betreuung zu treffen hatte, wird unweigerlich auch sich sehen. Jeder Mensch, der Nähe nicht zu gleichen Teilen an Eltern, Geschwister, Kinder ausgibt, wird die Gedanken und die nicht immer sitzenden Erklärungsversuche vor sich selbst nachvollziehen können – am Ende ist es, wie es ist und bestenfalls sind wir damit im Reinen, wenigstens neutral resigniert. Jede Person, die schon mal einen Verfall, ein Dahinsiechen, ein langsames Sterben erlebt hat, wird so vieles in diesem Journal finden, das sie kennt, das helfen und stützen mag, ohne dass es ein fucking Bullerbü an die Wand schmiert.

Was sich fühlt

Sie findet einen Ton, der wiederum uns als Leser*innen findet, einen, der frei von Pathos schwierige Geschichten erzählt, oder schwierige Themen, denen Menschen im Leben nun einmal begegnen. Wurster tappt also nicht in die Falle gefühlig zu werden, wenn etwas positiv empfunden wird; sie schreibt nicht panisch, wenn Verzweiflung beschrieben wird; sie klingt nicht romantisierend-humoristisch, wenn Demenz geschildert wird. Sie bleibt im Ton bei sich, was wiederum bei uns wirkt und schafft somit das, was Sarah Biasini wohl auch mit ihrem Buch hat schaffen wollen.

Üblicherweise vermeide ich solche Sätze, da sie mir allzu pathetisch sind und ein unangenehmes Gefühl in mir auslösen, doch hier lässt es sich kaum anders beschreiben: Papa stirbt, Mama auch ist ein Buch, das ich gefühlt habe. Eines, mit dem ich und das mit mir gearbeitet hat und das merklich etwas mit mir gemacht hat, weit über die Lektüre hinaus; eines, das mich noch lange begleiten wird. 

AS

PS: Maren Wurster war übrigens, genau wie Asal Dardan, mit ihrem Band für den Clemens-Brentano-Preis der Stadt Heidelberg nominiert.

Eine Leseprobe findet ihr hier.

Maren Wurster: Papa stirbt, Mama auch; Juli 2021; 160 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag; ISBN: 978-3-446-27112-8; Hanser Berlin; 20,00 €; auch als eBook erhältlich

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