Das Tiefseeungeheuer Antisemitismus

In „Nicht ohne meine Kippa!“ schildert Levi Israel Ufferfilge alltäglichen Antisemitismus und die Begegnung mit Klischees mal pointiert, mal erschreckend, mal beides und immer emphatisch, ohne gefühlig zu werden. Durch eine klare, die (nicht-jüdischen) Leser*innen auf verschiedenen Ebenen erreichende Sprache trägt er sicherlich dazu bei, deren Sinne für Antisemitismus zu sensibilisieren.

Der Beauftrage gegen Antisemitismus des Landes Baden-Württemberg und unter anderem Autor von Warum der Antisemitismus uns alle bedroht, Michael Blume, gab kürzlich in einer von der Konrad-Adenauer-Stiftung Dresden durchgeführten Diskussion so ziemlich zu allen Beispielen übergriffiger Kommentare gegenüber Juden und Israelis, in so genannter „Israelkritik“ verpackten Ressentiments und Schlimmerem an, dass dies alles Antisemitismus sei. Punkt. Es wäre interessant gewesen zu sehen, wie Blume sich in der Sendung von Sandra Maischberger aus dem Jahr 2017 zur Dokumentation Auserwählt und ausgegrenzt – Der Hass auf Juden in Europa wohl über so manche Haltung ausgelassen hätte. Vermutlich ähnlich wie Levi Israel Ufferfilge, der sich beim Anschauen der Diskussionsrunde, in der „privilegierte Ahnungslose davon erzählen, was sie als Antisemitismus definieren“, einfach „wütend und hilflos“ fühlte, wie er in seinem kürzlich im Tropen Verlag erschienen Buch Nicht ohne meine Kippa! Mein Alltag in Deutschland zwischen Klischees und Antisemitismus schreibt.

In dieser Runde, die auch der nicht-jüdische, nicht-israelische und ziemlich atheistische Autor dieser Zeilen gesehen hat, ging es darum, die schon ohnehin mit Warnhinweisen versehene genannte Dokumentation „einzuordnen“. Die Warnhinweise galten jedoch nicht dem Punkt, dass der gezeigte Antisemitismus erschüttern könne, sondern eher der Beruhigung, durch einen angekündigten Faktencheck für Klarheit zu sorgen. Dieser war dann weniger das, als vielmehr eine Relativierung des Gezeigten. Ähnlich gestaltete sich die teils völlig entgleiste, oder wie Ufferfilge treffend schreibt: „vulgär, neurotisch und idiotisch“ laufende Diskussion. Den Namen eines der größten vulgären Idioten wollen wir mal nicht nennen, zum einen tut Ufferfilge es im Buch selber nicht, zum anderen soll man über Tote nicht schlecht reden… Auch dann nicht, wenn’s stimmt. Anyway: Die Debatte war ein erschütterndes Beispiel dafür, wie Antisemitismus durch „Einordnung“ relativiert und mit einem großen „Ja, aber…“ versehen wird. Dem „Ja, aber… – in Israel…“ So lernen wir: Alle Juden sind gemeinsam schuld, vor allem am eigenen Schicksal, immer. (Esther Schapira hat diese Mechanismen gemeinsam mit Georg M. Hafner ganz eindrücklich in dem Buch Israel ist an allem schuld. Warum der Judenstaat so gehasst wird analysiert und kommentiert.)

Juden machen Satan schwul oder so

Ein „immer“ begegnet auch dem 1988 im nordwestfälischen Minden – circa eine Autostunde von Münster entfernt – geborenen Levi Israel Ufferfilge, der niemals ohne sein „Käppchen“ aus dem Haus geht. Sein „immer“ ist dabei, wenn wir so wollen, vielfältig: Es ist immerhin nicht immer Hass. Toll. Manches Mal sind es auch „einfache“ Klischees, Eigenschaften, die man ihm zuschreibt, weil er eine Kippa trägt, denn diese mache blind für andere Eigenschaften. Das geht von den „gängigen“ Dingen, wie jenen, ein sicherlich vermögender Jurist zu sein (ist er nicht, auch nicht für Yachten; er ist Schulleiter der Jewish International School – Masorti Grundschule) über die Annahme, mit Kippa müsse er Rabbi sein (nein) oder wenigstens doch dem (ultra)orthodoxen Judentum angehören, über Anschlüsse an Satan (…) und natürlich zur Kontrolle der Welt (wir wissen es nicht, er würde es bestimmt nicht zugeben… 🤔🙄), außerdem machen Juden schwul oder allgemein homosexuell oder so (was ja irgendwie sexy wäre).

Verzeiht die Ironie, aber manchem lässt sich so leichter begegnen. Das geht auch Ufferfilge so als er beginnt, die Erfahrungen, die er mit Antisemitismus und Klischees in seinem Alltag macht, nicht mehr nur für sich festzuhalten, sondern sie in den sozialen Netzwerken zu teilen. Auch dort schreibt er – wie nun auch im Buch – pointiert. Manch eine Pointe ist dabei sehr bitter, andere erheitern in der Tat. Er schreibt darüber hinaus emphatisch, ohne gefühlig zu werden und mag durch eine klare, die (nicht-jüdischen) Leser*innen auf verschiedenen Ebenen erreichende Sprache, dazu beitragen, deren Sinne für Antisemitismus zu sensibilisieren.

Doch ist sein vielseitig zusammengestelltes Buch keine Ansammlung ausschließlich hassgeprägter Beispiele, einige zeugen schlicht von Unwissenheit, unsicherer Neugier, hin und wieder naiver Dummheit und wieder andere davon, in einer Gesellschaft geprägt worden zu sein, die irgendwie erinnert, aber nicht so, dass es wehtun könnte. So eine Hybrid-Begegnung beschreibt er an einem Bahnsteig mit einem ostwestfälischen Ehepaar. Sie meint, dass man sich in Deutschland beglückwünschen könne, einiges richtig gemacht zu haben „und wieder, ja ich sag mal, einen Juden sehen [zu] können.“ Die Replik Ufferfilges, dass es eher so sei, dass „die Deutschen vor Ihnen“ ihren Job eben nicht richtig gemacht hätten, da statt seiner dort sonst ein blonder Schlesier stünde, wissen die beiden nicht zuzuordnen. In seiner Erläuterung fügt er noch an, wie frech es sei, historische Kausalitäten umzudeuten.

Bullshit Boxing und Goysplaining

Das ist wahr und begegnet einer und einem und ihm doch sehr häufig. Und das quer durch die Gesellschaft. So stellte er auch an der Universität schnell fest, dass diese nicht unbedingt Stätte des hochintellektuellen Austauschs sein müsse, er dafür aber seine Kompetenzen im Bereich „Bullshit Boxing“ ausbauen könne. Das ist eine herausfordernde, aber besondere Sportart. Noch nicht für die Makkabi-Games zugelassen, aber wer weiß was noch so kommt. Dafür hat er in einem Filmkritikkurs der Universität Freunde und Freude gefunden (an dieser Stelle sei angemerkt: sollte er das mal professionell betreiben wollen, wird sich zumindest ersteres möglicherweise ändern).

Auch schildert er Beispiele von Goysplaining – also wenn ein nicht-Jude einer jüdischen Person jüdische Konzepte und Wertvorstellungen erläutert oder eben den Antisemitismus wegdiskutiert, oder wie jener vulgäre Talkshow-Idiot weg-einordnet oder ihm ein Bahn-Mitreisender Kulturelle Aneignung vorwirft, da er Panjabi MC hört und es doch als Jude eigentlich besser wissen müsse. Er hört übrigens oft Musik, auch als Schutzschild, um von außen kommende Bemerkungen manches Mal nicht hören zu müssen, vor allem aber um den ihm ständig aufgedrückten Gesprächen aus dem Weg zu gehen. 

Wobei er sie an anderer Stelle sucht, denn mitnichten will er nicht auch über das Judentum, dessen Werte und individuelle Bedeutung sprechen – so bringt er uns auch im Buch einiges nahe und vermittelt viele Informationen, die über seine persönliche Geschichte und die Erfahrungen mit Antisemitismus hinausgehen. Sehr, sehr interessant sind die Teile des Buches, in denen er über den Verlust von Kultur, Sprache und letztlich Erinnerung durch die Shoah und durch fortwährende Vertreibung schreibt. Auch seine Schlussausführungen zu Sprache lassen nachdenklich werden, zumal sich hier die Sprache nicht natürlich und durch gesellschaftlichen Wandel verändert hat, sondern weil sie ausgelöscht werden sollte. Beides ein Grund mehr zu sagen: Wieso soll die Lösung des Problems denn sein, dass ich oder wir wieder auswandern? Wir sind nicht die Ursache!

Inkludierende Gemeinden und Selbstschutz

Immer wieder kommt er auch darauf zu sprechen, dass jüdisches Leben „dezent“ gelebt werde, man mit dem Jüdischsein niemandem zur Last fallen wolle oder solle. Was natürlich schnell zu dem Gefühl eines konstanten Irgendwie-Ausgeschlossen-Seins führen kann und natürlich die Bindung zur eigenen Gemeinde verstärkt. Hier spricht sich Ufferfilge auch dafür aus, dass Gemeinden offener sein sollten, jene empfangen, die sie zu lange „verletzt, an den Rand oder aus den Gemeinden gedrängt“ hätten: „Frauen, LGBTQIA-Juden, Juden mit Behinderung, Juden of Colour, sogenannte Vaterjuden, […].“ Wir sehen also auch eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Glaubensinstitution. 

Apropos Auseinandersetzung: An mancher Stelle ist Levi Israel nur knapp körperlichen Übergriffen entgangen, wie während einer Tramfahrt, in der ihm letztlich ein Kanadier aus der Situation half. Hier wundert er sich übrigens über die große Resonanz auf Twitter, habe er seinen Schreck doch schnell überwunden. So recht glauben mag man das nicht, denn wenn man die Schilderung der Geschichte liest, entsteht doch der Eindruck, der Vorfall hätte länger nachgewirkt. Durch die Menge an schlechten und teils direkt gefährdenden Begegnungen, die hin und wieder ablehnende bis ihm die Schuld gebende Reaktion der Polizei und der Wunsch, seine Freunde nicht in diese Dinge hineinzuziehen, mögen aber auch dazu beigetragen haben, dass Ufferfilge manches davon inzwischen wie von außen betrachtet und quasi seine eigenen Geschichten erlebt. Das ist natürlich nicht unklug und ein durchaus gängiger Selbstschutzmechanismus. 

Schutz erfährt er übrigens auch. Es gibt besorgte Nachbar*innen, natürlich Freunde, Menschen die er eigentlich nicht kennt, die ihn ansprechen und ihm sagen, dass sie, wo sie können, auch ein Auge auf ihn haben. Demgegenüber stehen wohl gerade in der jüngeren Zeit Menschen, die sich am Bahnhof an ihn wenden und dazu anhalten, seine Kippa abzunehmen, da sonst was passieren könne, er alle in Gefahr brächte. 

Oma ist die Beste

Neben den Alltagserfahrungen eines Juden, der sein Jüdisch-sein nicht versteckt und damit auch als Aggressionswand im Bus herhalten musste, als in Deutschland die überemotionalisierte und völlig abstrus geführte Beschneidungsdebatte tobte, schreibt Levi Israel Ufferfilge auch einiges zu seiner Familie, hier insbesondere seiner wohl ziemlich fabelhaften Oma. Er und sie haben schon seit jeher ein recht besonderes Verhältnis, welches er im Buch durchaus mit dem einen oder anderen literarischen Kniff versehen beschreibt. Und wir denken uns am Ende: Als Folgeband könnte auch sehr gern eine Sammlung verschiedener Einlassungen seiner Oma oder von Gesprächen der beiden erscheinen. 

Überhaupt scheint Ufferfilge, was familiäre Strukturen angeht, durchaus sehr solide und mit ausgeprägter Unterstützung aufgewachsen zu sein und natürlich ist es hilfreich zu wissen, dass man „daheim“ ein stabiles Umfeld im Rücken hat. Später soll er auch eine gut aufgestellte Beziehung führen, die ihm durch Zeiten schwerer Krankheit und dem Wechsel des Krankenhauses hilft, als ihm im ein antisemitischer Angestellter begegnet. Die Krankheit vergleicht er schließlich mit Antisemitismus: „Man braucht das Vertrauen, dass es besser wird und man weitermachen kann, wenn man als Jude der jüdischen Gemeinschaft sichtbar sein und bleiben möchte.“

Nun wollen wir uns hier nicht in etlichen Beispielen ergehen, geneigte Leser*innen seien dazu angehalten, sich lieber Nicht ohne meine Kippa! zu besorgen. Angemerkt sei noch, dass natürlich auch er besorgt auf das Erstarken der Neuen Rechten blickt, feststellt, dass die Anfeindungen zunehmen und sich verändern – die alten Mythen werden wieder hervorgeholt, auch durch die Worte eines Björn Höcke, die auch Ufferfilge wörtlich nimmt und sie als das sieht was sie sind – was, wie wir wissen, die einzig richtige Interpretation ist – sie nicht als populistisch-rhetorische Spielerei abtut und es auch den AfD-Wähler*innen nicht durchgehen lässt, hier aus „Protest“ rechtsextreme Kräfte zu wählen. 

„Jüdische Sichtbarkeit bleibt verteidigungswürdig“

Zu Beginn von Nicht ohne meine Kippa! schreibt Levi Israel Ufferfilge: „Dieses Buch soll nicht mein Testament werden.“ Er verknüpft seine Erzählungen mit der Hoffnung, dass sie einen kleinen Beitrag dazu leisten mögen, „dass andere Jüdinnen und Juden es einmal leichter haben werden, sichtbarer und damit freier leben zu können.“ Zu gern würde man hier sagen, das geht schon, mit ein wenig gesundem Menschenverstand und Empathie und ja, laissez-faire passt das. Und dann schalten wir die Nachrichten ein und hören schlimmstenfalls noch von einzelnen Kommentatoren des öffentlich-rechtlichen Rundfunks (hoffentlich aus Unbedachtheit) antisemitisch gefärbte Narrative, zuletzt zu den teils so genannten „Pro-Palästina-Demos“ in Berlin und anderen Großstädten, für die auch hier wieder jüdische Gemeinden und Menschen in Mithaftung genommen werden. 

Kein Aufgeben der Grundrechte // Bild: © the little queer review/via Instagram

Der Antisemitismus sei da und gegen ihn werde zu wenig unternommen, weil Menschen glaubten, es gäbe ihn nicht mehr. Da ist sie dann: diese Interpretation der gesellschaftlichen deutschen Mitte, nach der der Antisemitismus so etwas ist, wie ein „Tiefseeungeheuer, über dessen Existenz oder Verbreitung man sich letztlich nie ganz sicher sein könne.“ Aber er ist da und gegen ihn wird zu wenig unternommen. Levi Israel Ufferfilge trägt seine Kippa weiter und sagt, sie dürfe nie mit den Augen eines Antisemiten oder mit ängstlichem Blick betrachtet werden. Sie sei ein Symbol für jüdische Zugehörigkeit, jüdische Religion, Kultur, Geschichte und Zivilisation. Und da sie etwas Freiwilliges sei, sei sie etwas Eigenes und doch Einheitsstiftendes. „In ihrer Bedeutung bleibt sie verteidigungswürdig. Jüdische Sichtbarkeit bleibt verteidigungswürdig.“ Ja.

Nicht ohne meine Kippa! von Levi Israel Ufferfilge

Eine .pdf-Leseprobe findet ihr hier.

Levi Israel Ufferfilge: Nicht ohne meine Kippa! Mein Alltag in Deutschland zwischen Klischees und Antisemitismus; 1. Auflage 2021; 208 Seiten; Klappenbroschur; ISBN: 978-3-608-50412-5; Tropen Verlag; 17,00 €; auch als eBook

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Hinweis: Am 25.5.2021 findet um 19:00 Uhr ein Insta-Live-Talk mit Levi Israel Ufferfilge und Max Czollek statt. Hier gibt es alle Infos.

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