Mehr Gewalt, mehr Ideen

Gestern Vormittag stellte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) gemeinsam mit Holger Münch, dem Präsidenten des Bundeskriminalamts, die bundesweiten Fallzahlen für politisch motivierte Kriminalität im Jahr 2022 vor. Danach ist die Zahl der politisch motivierten Straftaten im Jahr 2022 deutlich um über sieben Prozent auf 58.916 Delikte angestiegen. Damit befindet sich die politisch motivierte Kriminalität (PMK) auf dem höchsten Stand seit Einführung der Statistik im Jahr 2001. Um vier Prozent angestiegen auf 4.043 Delikte ist auch die Zahl der politisch motivierten Gewalttaten.

Hohe Dunkelziffern

„Die politisch motivierte Kriminalität ist ein Spiegelbild der gesellschaftlichen Konflikte in unserem Land”, sagt Faeser dazu in einer vom Bundesministerium des Innern und für Heimat (BMI) veröffentlichten Pressemitteilung. Das Allzeithoch der Fallzahlen „das spiegelt die politischen und gesellschaftlichen Spannungen aufgrund multipler und sich überlagernder Krisen und Konflikte wider“, sagte Holger Münch im Rahmen der Vorstellung in der Bundespressekonferenz. Zudem macht er Radikalisierungstendenzen in Teilen der Bevölkerung aus, diese „richten sich gegen unsere freiheitliche demokratische Grundordnung und gefährden unseren gesellschaftlichen Frieden“, wird er in der Mitteilung zitiert und mahnt, diese Entwicklungen ernst zu nehmen. 

Auch die registrierten Fälle von Hasskriminalität gegen Lesben, Schwule, Bisexuelle, trans– und intergeschlechtliche sowie queere Menschen (LSBTIQ*) sind weiter gestiegen. Im Unterthemenfeld „sexuelle Orientierung“ ist ein Anstieg um 15 % auf 1.005 Straftaten (davon 227 Gewaltdelikte) registriert worden. In diesem wie in den zum 1. Januar 2022 neu geschaffenen Unterthemenfeldern „geschlechtliche Diversität“ (417 Straftaten, davon 82 Gewaltdelikte) sowie „frauenfeindlich“ (206 Straftaten, davon 15 Gewalttaten) gilt es jedoch zu beachten, dass die Dunkelziffern besonders hoch ausfallen dürften.

Attacken jeden Tag

Der Beauftragte der Bundesregierung für die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt, Sven Lehmann (Bündnis 90/Die Grünen), zeigt sich erschüttert: „Jeden Tag werden LSBTIQ* in Deutschland beleidigt, angegriffen und attackiert. Damit dürfen und werden wir uns nicht abfinden. Ziel der Bundesregierung ist es, Queerfeindlichkeit entgegenzuwirken, LSBTIQ* vor Gewalt, Übergriffen und Anfeindungen zu schützen und Opfer besser zu unterstützen.“

Hier soll der ressortübergreifende Aktionsplan „Queer leben“ der Bundesregierung greifen. Ebenso wird „der Abschlussbericht des vom Bundesinnenministerium koordinierten Expert*innen-Gremiums zur Verbesserung der Bekämpfung von gegen LSBTIQ-gerichteten Gewalttaten“ auf der Innenministerkonferenz im Juni behandelt. Bleibt zu hoffen, dass diese Maßnahmen und also das wichtige Thema „Sicherheit“ dabei nicht nur auf geduldigem Papier ausharren, sondern im Rahmen ihrer Umsetzung eine Veränderung bewirken.

Viel Arbeit auf allen Ebenen

Denn machen wir uns doch nichts vor: Nur weil (gute) Strategien entwickelt und theoretische Handlungsoptionen festgehalten werden, ist noch kein queerer Mensch auf der Straße und im Alltag sicherer. Schutzwille bedeutet nicht gleich Schutz. An diesen Stellen muss einiges geschehen. Muss im Zweifel hart durchgegriffen werden. Auch muss bei den staatlichen Stellen eine Atmosphäre geschaffen werden, die queeren Menschen nicht beinahe ebenso viel Angst einjagt, Anzeige zu erstatten wie attackiert zu werden. Das ist eine große Baustelle, die nicht durch einen Entwurf zu lösen ist. Es ist viel Arbeit auf verschiedenen Ebenen, die da noch vor uns, dem Queerbeauftragten, der Bundesregierung und den einzelnen Landesregierungen sowie Kommunen liegt.

Ebenso wurde gestern endlich der Gesetzesentwurf zum Selbstbestimmungsgesetz vorgelegt und geht nun im nächsten Schritt in die Verbändeanhörung, bevor er dann im Parlament debattiert wird. Damit soll das seit 40 Jahren geltende und trans*Personen diskriminierende Transsexuellengesetz (TSG) bald der Geschichte angehören. Im Fokus des neuen Gesetzes steht die Abschaffung der psychiatrischen Zwangsbegutachtung. „Jeder Mensch hat das Recht auf Anerkennung seiner Persönlichkeit und Respekt. Das will die Bundesregierung auch für transgeschlechtliche, intergeschlechtliche und nichtbinäre Menschen umsetzen“, sagt Lehman hierzu.

Gegen die Rattenfänger anspielen

Gleichwohl macht er an mancher Stelle Verbesserungsbedarf aus. Etwa bei der Wartezeit von drei Monaten, bei vielen Ausnahmen im Offenbarungsverbot und den Verweis auf die Gültigkeit des Hausrechts empfindet der Grünen-Bundestagsabgeordnete als unnötig. Ganz ähnlich, samt einiger anderer Fragen, analysierte und kommentierte auch Nora Eckert kürzlich den kursierenden Entwurf. 

Auch hier zeigt sich wieder, dass Papier geduldig ist. So stellt Mara Geri vom Lesben- und Schwulenverband (LSVD) in einer Pressemitteilung ganz richtig fest: „Seit der Vorstellung des Eckpunktepapiers im letzten Jahr beobachten wir eine Zunahme trans*feindlicher Rhetorik und Stimmungsmache in der breiten Öffentlichkeit. Ängste vor trans*, inter* und nichtbinären Personen werden gezielt verbreitet, geschürt und instrumentalisiert. Die Aufgabe eines Selbstbestimmungsgesetz ist es auch, sich klar gegen Trans*feindlichkeit zu positionieren.“

Das stimmt — nur wird letztlich eine klare Positionierung in der Theorie wenig helfen. Diese Personen, die angetreten sind, Ängste zu schüren, tun dies nicht etwa, weil sie es nicht besser wissen, sondern weil es Teil ihrer menschenverachtenden Agenda ist. Dennoch sind klare Worte und geduldige Aufklärung geboten, um jene zu erreichen, die sich sonst aus Uninformiertheit und falsch verstandener Sorge vereinnahmen lassen könnten. 

Wir sollten als queere Community aber auch als Zivilgesellschaft im Allgemeinen deutlich und bestimmt, vor allem aber geschlossen, gegen die verlockenden Melodien der Rattenfänger antreten.

AS

PS: Noch kurz ein, zwei Zahlen, entnommen der Pressemitteilung des BMI: „Die antisemitischen Straftaten sind im Jahr 2022 um 12,75 Prozent auf 2.641 Taten (2021: 3.027 Taten) zurückgegangen. Dies ist wegen des Höchststands im Jahr 2021 und der hohen Zahl von 88 Gewaltdelikten (2021: 64 Gewaltdelikte) kein Grund zur Entwarnung. Der weit überwiegende Anteil der Taten von ca. 84 Prozent der antisemitischen Taten sind der politisch rechts motivierten Kriminalität zuzurechnen. Zugleich sind Taten durch islamistisch geprägten Antisemitismus zu beobachten.

[…]

Im Bereich der Hasskriminalität hat sich eine deutliche Zunahme um rund zehn Prozent auf 11.520 gezeigt. Drei von vier dieser Straftaten sind dem Bereich ‚PMK rechts‘ zuzuordnen. Die Zahl der Gewalttaten ist noch deutlicher um 33 Prozent auf nun 1.421 gestiegen. 

[…]

Gleichzeitig haben sich Klimaproteste im Jahr 2022 zu einem deutlichen Themenschwerpunkt linksmotivierter Straftaten entwickelt. Hier wurden 1.585 Straftaten registriert. Dies entspricht etwa einer Verdoppelung gegenüber 2021. Mehr als 80 Prozent der registrierten Straftaten wurden der ‚PMK links‘ zugeordnet.“

PPS: Eine ursprünglich für morgen im Plenum des Bundestages angesetzte Debatte zu einem AfD-Antrag mit dem gar nicht reißerischen Titel „Genderideologie– Bedrohung für Bildung, Wissenschaft und Kultur“ ist von der Tagesordnung abgesetzt worden.

PPPS: An diesem Freitag, den 12. Mai 2023, hält Nora Eckert im Rahmen des Queer History Month in der Berliner Landeszentrale für politische Bildung, Hardenbergstr.22-24, 10623 Berlin, einen Vortrag zum Thema „Wie trans* zum Menschenrecht wurde — Ein Rückblick auf 25 Jahre trans*Aktivismus“.

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