Was zählen die Juden?

Neulich auf Instagram: Eine recht lese-engagierte Bookstagrammerin mit nicht geringer Reichweite hatte Sally Rooneys neues Buch Schöne Welt, wo bist Du gelesen. Um das Buch der irischen Schriftstellerin und überzeugten Marxistin gab es kürzlich eine, in Deutschland eher still verlaufende, Debatte. Oder viel eher weniger um das Buch, als um Rooneys Entscheidung, den Titel nicht ins Hebräische übersetzen und von ihrem israelischen Verlag vertreiben zu lassen. Grund dafür ist ihre Unterstützung für die Israel-Boykott-Bewegung BDS (Boycott, Divestment and Sanctions, dt.: Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen), die laut dem Deutschen Bundestag in ihren Zielen und Handlungen antisemitisch ist und von den Antisemitismus-Beauftragten in Deutschland als judenfeindlich kritisiert wird.

Einfach mal Rassismus ausblenden

In der Wochenzeitung DIE ZEIT verwies Iris Radisch – völlig zurecht – darauf, dass Sally Rooney kein Problem damit habe, dass Übersetzungen ihrer Romane in autoritären Staaten wie Russland, China oder dem Iran erschienen. Wir hatten unsererseits ihren Bestseller Normale Menschen besprochen, uns gleichsam nach ihrem antijüdischen Israel-Boykott jedoch entschieden unsere Besprechung zu entfernen, bzw. anzupassen.

Nun zurück zu anfangs erwähnter Bookstagrammerin: Sie ist begeistert von dem Buch, wie auch von den Vorgänger-Titeln. Super. Schreibt dazu: „[…] wenn diese politische Debatte um Rooney selbst nicht wäre, die die Übersetzung ihres Romans ins Hebräische gestoppt hat, um die Palästinenser zu unterstützen*1. Aber egal, wie man dazu steht, ich will es jetzt einfach mal rein literarisch betrachten.“ Da drängt sich hier die Frage auf: „‚Egal wie man dazu steht‘?“

In einer Buchhandlung: Hoffentlich haben die es bewusst so ausgelegt 😉

Nun stellen wir uns mal vor, gleiches würde im Zusammenhang mit Rassismus gegen BPoC, Gewalt gegen Frauen oder, uhm, Woody Allen gesagt werden: „Egal, wie man dazu steht, dass XYZ gern mit dem N-Wort um sich wirft, ich will es einfach mal literarisch betrachten.“ Fühlt sich nicht gut an, oder? Da dreht sich einem direkt was um, aus gutem Grund. Das denkt sich anhand einiger anderer Beispiele mitten aus dem Leben – und von Twitter, also aus der Lebensbrutalität 4.0 – auch der britische Comedian und Autor David Baddiel, dessen Buch Und die Juden? kürzlich in der gelungenen Übersetzung von Stephan Kleiner im Hanser Verlag erschienen ist.

Marginal ja, aber doch nicht marginalisiert

Baddiel arbeitet hier diverse Bespiele von antijüdischem Rassismus, den es gibt, wie er auch für die letzten Zweifler:innen einleuchtend genug erläutern dürfte, heraus, wie auch ein starkes Mit-Zweierlei-Maß-Messen, wie wir es mal nennen wollen, wenn es um Antisemitismus und vor allem antijüdischen Rassismus im Vergleich zu anderen Rassismen und weiteren (verbalen) Übergriffen gegen diverse Menschengruppen geht. Dass er nicht vergleicht, um einen Opferwettbewerb zu gewinnen, sondern seine Argumentation nachvollziehbar zu machen, dürfte geneigten Leser:innen schnell klar sein. Etwa wenn er schreibt: „Juden sind zwar marginal, gelten aber nicht als marginalisiert.“ Hier und da findet Baddiel zwar auch Beispiele, dass sich ein Bewusstsein für antijüdischen Rassismus einzustellen beginnt, nach diesen müsse allerdings recht aufmerksam gesucht werden. 

Was hat das miteinander zu tun? Für jene, die Und die Juden? gelesen haben (werden) ist die Sache klar. // Foto: the little queer review

Und die Juden? kann getrost als zugänglich bezeichnetet werden, vorausgesetzt mensch ist willens, sich auf die Thematik und ein wenig Selbstreflexion einzulassen. In diesem Fall ist Und die Juden? eine so unterhaltsame wie packende Bestandsaufnahme und Analyse nicht nur vom Unterschied zwischen offensichtlichem und aggressivem Antisemitismus und Judenhass von rechts, sondern auch der teils unbewusst ablaufenden Mechanismen, die antijüdischen Rassismus als gar nicht so wild erscheinen lassen mögen. Sei das nun in Form von Karikaturen, Tweets, klischeehaften Darstellungen in Film, Fernsehen und Literatur, schiefen Täter-/Opfer-Vergleichen oder in politischer Berichterstattung und Kolumnen, die fast nie hinterfragte Darstellung Israels als einem Aggressor, was auf die stark internalisierten Vorurteile gegenüber Juden – raffgierig, niederträchtig, selbstbezogen, … – zurückzuführen ist, mit denen eben auch ausgeprägte Antisemiten arbeiten.

Das Selbst leugnen

So bildet sich quasi ein Kreislauf sich wiederholender Abneigungsprozesse heraus, der jedoch von vielen gar nicht erkannt wird. Ganz im Gegenteil, denn das, auch dies stellt Baddiel dar, und wäre es nicht im echten Leben so schmerzlich, würde die Absurdität des Ganzen eine herrliche Groteske abgeben (wir dürfen durchaus lachen), führt dazu, dass sich viele Menschen (im Fall des Buches nutzt der Brite Baddiel vor allem die Beispiele britischer Prominenter) ihres Jüdischseins wegen schämen, es aus der Öffentlichkeit heraushalten, es relativieren oder im Falle des Schauspielers Tom Rosenthal gleich einer Jugendsünde zu behandeln scheinen (ich werde Plebs und vor allem Friday Night Dinner nie wieder so sehen können wie früher). Gerade queeren Menschen, die sich lange verstecken mussten, es in einigen Staaten – im demokratischen Israel übrigens nicht – immer noch müssen, sollte es doch hier mulmig werden.

Somit geht es in Und die Juden? also auch in ganz wörtlicher Interpretation um Identität und die Verschiebungen derselben; aber natürlich auch in abstrakterer Formen um identitätspolitische Debatten. Etwas, das manche Leser:innen auch mal zum Aufstoßen bringen dürfte, könnte es doch dazu führen, ihre Definition von „Wokeness“ zu hinterfragen. Da greifen auch die, erneut sehr unterhaltsamen Beispiele, anhand derer David Baddiel uns nachvollziehen lässt, wie Argumente oder auch Fragen zu, nun „Und, was ist mit uns Juden?“ ins Gegenteil à la „Ja, was ist denn bitte mit EUCH Juden?“ verkehrt werden. Und schon befinden wir uns beim Whataboutism, den der Comedian in einem Teil deutlich herausarbeitet, aber auch so lassen sich viele Beispiele entsprechend lesen. Famos dargelegt zum Beispiel anhand kultureller Aneignung in Bezug auf Essen.

Kein Hass, nur nicht wichtig genug

Apropos lesen: Auch mit antisemitischen und antijüdischen Mustern in der Literatur setzt sich Baddiel auseinander. In Zeiten, in denen wir alles auf sanfte Sprache, Triggerwarnings und dem Entfernen antischwarzer rassistischer, übergriffiger Worte und Töne durchforsten und Klassiker aktualisieren, wundert er sich, dass das in Bezug auf die Juden unterlassen wird. Ähnlich wie beim vormaligen Labour-Politiker Jeremy Corbyn unterstellt er auch hier keinen Hass auf Jüdinnen und Juden, meint einfach nur, dass antijüdischem Rassismus schlicht ein geringerer Stellenwert zugewiesen würde. Es fällt schwer, dem etwas entgegenzusetzen, außer, nun ja – Whataboutism und so.

Getoppt wird all das dann durch das als Menschenrechtshilfe flankierte Engagement der oben erwähnten BDS-Bewegung, die doch vorrangig mit antijüdischen und rassistischen Klischees und Aktionen gegen Jüdinnen und Juden und Israel agiert. Laut trommelte man, um den Eurovision Song Contest in Israel zu boykottieren. Schon klar… Aber hey – Aserbaidschan, diese coole Menschenrechtssocke! 

„Israelkritik ist doch kein Antisemitismus!“

Etwas, das der durchaus im politisch linken Spektrum zu verortende David Baddiel im Buch lange nicht macht, ist die Debatte auf eine allzu politische Ebene in Bezug auf die Politik des Staates Israel zu heben – auch wenn natürlich viele Anwürfe vermeintlich politisch legitimiert werden sollen -, sagt er doch, es sei das eine, die Politik eines Staates zu kritisieren, daraus aber Rassismus und die Feindlichkeit gegenüber einer Menschengruppe abzuleiten, sei eben falsch. Zwischen „Ex-Präsident Netanyahu stand für schwierige Politik“ und „Jaja, die Juden/die Israelis…“ gibt es einen großen Unterschied. Wenn wir uns Deutschland betrachten, können wir das am feinen Wort „Israelkritik“ festmachen. Wie schon u. a. Georg M. Hafner und Esther Schapira in ihrem stark empfehlenswerten Buch Israel ist an allem schuld herausgearbeitet haben, gibt es dieses Wort nur für Israel.

„Deutschlandkritik?“ – Nee; „USA-Kritik?“ – Uhuh; „Irankritik?“ – Selbst das nicht. An dieser exklusiven Wortschöpfung – Baddiel erklärt es global gültig mit Begriffen wie „Judenbänker“ und ähnlichem (zugegeben, da haben wir hier den „Deutschbanker“, das ist zuweilen auch negativ konnotiert) – können wir nicht nur das erwähnte Zweierlei-Maß sehen, sondern auch in welche Richtung es Menschen sofort treibt. Das führt uns wieder zum eingangs erwähnten Instagram-Beispiel. In einigen der Kommentare heißt es, das müsse man irgendwie mitdenken, und Cancel Culture sei „real und wichtig“ (alle sind sich auch einig, dass J. K. Rowling wegen ihrer anti-trans- und TERF-Scheiße boykottiert gehört), aber es würde doch schnell klar, Sally Rooney beziehe das ja nur auf ein Unternehmen (nein, tut sie nicht) und überhaupt: „Israel-Kritik ist nicht immer gleich Antisemitismus, das wird aber leider oft so hingestellt.“ Man möchte ihnen dieses ohne erhobenen Zeigefinger ermahnende, weil vor allem unterhaltsam und nachvollziehbar einordnende, engagiert aber nicht überbordend aufgeregt verfasste und wohlstrukturierte Buch schicken. 

*1 Abgesehen davon, dass sich Palästinenser auch unterstützen ließen, ohne Israelis und Juden zu boykottieren. Schon dieses Framing ist ein Beispiel für alles, das Baddiel anspricht und aufzeigt. Es zeigt ein Mindset, das Israel und damit auch „die Juden“ als Aggressoren erkennen lässt, selbst wenn dies unbewusst geschehen sollte. 

AS

PS: Unsere Überschrift nimmt Bezug auf David Baddiels Vorwort zur deutschsprachigen Ausgabe des Buches, das im Original Jews Don’t Count heißt, hier aber unmöglich unter dem Titel Juden zählen nicht erscheinen dürfe, bzw. könne. Der Austausch dazu, der Baddiel dazu bringt, festzustellen, dass das stete sich selbst zur Erinnerungskultur Gratulieren Deutschlands, nicht davor schütze, Jüdinnen und Juden im Jetzt nicht doch unsichtbar werden zu lassen, ist ein klasse Einsteig in das Buch.

PPS: Als Lesezeichen diente übrigens ein Beitrag vom November des vergangenen Jahres aus der Jüdischen Allgemeinen, in dem es darum geht, dass sich britische Jüdinnen und Juden über die Suspendierung des früheren Labour-Chefs Jeremy Corbyn wegen Antisemitismus freuten. Baddiel arbeitet den Vorgang und die Schizophrenie nicht nur innerhalb der Partei, sondern auch in der Gesellschaft und der jüdischen Community fein heraus.

PPPS: Die sehr sehenswerte Buchvorstellung mit Sascha Chaimowicz (Chefredakteur ZEITMagazin), Marina Chernivsky (Psychologin und Leiterin des Kompetenzzentrums für Prävention und Empowerment der Zentralen Wohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland) und Daniel Donskoy (Schauspieler und Musiker), moderiert von Jo Frank (Geschäftsführer des Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerks), im Jüdischen Museum gibt es hier

Eine Leseprobe findet ihr hier.

David Baddiel: Und die Juden?; Aus dem Englischen von Stephan Kleiner; 1. Auflage, Oktober 2021; Fester Einband; 136 Seiten; ISBN: 978-3-446-27148-7; Hanser Verlag; 18,00 €; auch als eBook erhältlich

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