Über Israel reden ohne Vakuumexistenz 

Dieser Tage mehren sich die Meldungen von gezielten Angriffen Israels auf Ziele im Gazastreifen, um gegen den Islamischen Dschihad vorzugehen. Aus dem Gazastreifen feuern militante Palästinenser wiederum Raketen auf Israel, auch der Großraum Tel Aviv ist betroffen. Parallel zu diesen Meldungen ploppen auf diversen Nachrichtenseiten Kommentare auf, werden „Haltungen“ in die sozialen Netzwerke krakeelt. Wird wieder einmal Feld markiert. Darum gestritten, ob die Berichterstattung einseitig und/oder tendenziös sei. Darum, wer angefangen hat. Darum, wer nun lauter sagt: „Ich hab recht. Du bist der Feind.“ 

Wir sind unsere unverrückbare Haltung

Es könnte kaum einen passenderen Zeitpunkt geben, sich Meron Mendels für den Deutschen Sachbuchpreis 2023 nominiertes, autobiographisch geprägtes, im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienenes, Buch Über Israel reden. Eine deutsche Debatte zur Hand zu nehmen. Der Direktor der Bildungsstätte Anne Frank kommentiert wie folgt: „Das vorliegende Buch ist keine Autobiografie. Es ist aber auch kein gewöhnliches Sachbuch, dafür enthält es zu viele meiner persönlichen Erfahrungen.“

In diesem essayistisch wirkenden, einen Blick auf vier Hauptpunkte in der Debatte um Israel werfenden Buch, lautet eine seiner, meiner Meinung nach zutreffenden, Kernthesen: Wenn „die Deutschen“ über den Konflikt Israel-Palästina streiten, geht es ihnen weniger darum, diesen zu ergründen und womöglich tatsächlich nach Lösungsoptionen zu streben, sondern vielmehr um ihre eigenen Befindlichkeiten, ja eine Selbstdefinition. 

Wir definieren uns über unsere Positionierung. Nicht nur zu diesem Konflikt (Mendel beleuchtet auch den hohen Erstaunlichkeitsfaktor, warum sich die Deutschen ausgerechnet an diesem tausende Kilometer entfernt stattfindenden Konflikt abarbeiten und möglichst unsexy aneinander reiben), sondern zu allem, was Israel und Juden betrifft. So auch bei der großen Frage — an deren Beantwortung viele nur bedingt interessiert sind —, ob „Israel“ und „Juden“, wenn nicht das Selbe, dann doch wenigstens das Gleiche seien und immer zusammen gedacht werden sollten. Oder anders: Wieso muss ich mich für meine „Israelkritik“ rechtfertigen, wenn ich doch gar nichts gegen Juden habe, aber…

…aber…

…ja, dieses „aber“. Viele kennen es zur Genüge, dabei muss es nicht zwangsweise um Jüdinnen und Juden gehen. Ich habe viele schwule Freunde, aber…; ich arbeite gut mit einem Ossi zusammen, aber…; ich habe nichts gegen Schwarze, aber… — das wird man ja wohl noch sagen dürfen. Keine Denk- und Sprechverbote! Wie gesagt — es ist so bekannt, wie leidlich, darauf im Kontakt einzugehen. Wenn auch nötig. Austausch, Debatte, etc. sollten nicht aufgrund unterschiedlicher Ansichten verunmöglicht werden (ausgenommen jene, die gänzlich abgefallen sind. Versucht mal, mit Erika Steinbach zu diskutieren….).

Dafür setzt sich auch der sich als links definierende gebürtige Israeli Meron Mendel ein. Nicht nur in seiner neuen, recht knappen und doch reichhaltigen Veröffentlichung Über Israel reden. Sondern schon immer. So finden sich in den vier Kapiteln, die unterschiedliche Problem- und Debattenfelder beleuchten, reichlich Beispiele für Gespräche, die er führte. Oder zu führen bereit war, bevor sie abgesagt worden sind. Etwa weil Veranstalter*innen einen Backlash fürchteten. Weil ihre starke Haltung womöglich bedeutete, gar keine zu beziehen. Was dann mit Neutralität begründet wird. 

Kritik ja,…

Mendel führt uns in seinem Prolog einmal fix durch sein Leben. Aufgewachsen in einem Kibbuz, Pazifist, aber nicht ignorant gegenüber einer gewissen Verteidigungsnotwendigkeit, politisch interessiert bis engagiert und immer kritisch gegenüber den rechten bis rechtsextremistischen Kräften in Israel. So wundert es kaum, dass Über Israel reden mit einem Appell beginnt und endet, kritisch auf die aktuelle stark rechtsgerichtete Regierung des noch einzig demokratischen Landes im Nahen Osten zu blicken. Dies nicht nur, wenn wir auf den wegen rassistischer Aufhetzung und Unterstützung einer terroristischen Vereinigung verurteilten Itamar Ben-Gvir, derzeit Minister für Nationale Sicherheit, schauen. 

Der kritische Blick, ja die ausformulierte Kritik ist nötig. Die Sorge, dass das Land einen Weg einschlägt, auf dem Wenden nicht mehr möglich ist (Stichwort Justizreform), berechtigt — und sie treibt Mendel um. Es treibt auch mich als Nicht-Juden und Nicht-Israeli um. Ich kritisiere die israelische Regierung dafür, dass sie sich unweigerlich in eine illiberale Demokratie-Sackgasse begibt; finde, in dieser Form hätte sie gar nicht zusammenfinden dürfen.

…doch nicht als Vorwand

Ähnlich schwierig sehe ich die Siedlungspolitik und bin doch ganz bei Mendel, wenn er im vierten Kapitel „Vergleichbar einzigartig — Die Erinnerungskultur und ihre Kritiker“ schreibt, dass man diese ablehnen und dennoch sagen könne: Kolonialismus ist etwas anderes. Denn neben antisemitischem Gedankengut, das in Deutschland in allen Milieus zu finden ist und auch dank Personen wie dem Australier Dirk A. Moses wieder salonfähiger artikuliert werden kann, kommt in den letzten Jahren im Rahmen postkolonialer Debatten vermehrt der Gedanke auf, „die Juden“ seien die eigentlichen Kolonialherrscher, die Besetzung durch das Osmanische Reich und die Briten völlig ignorierend, und hätten im Grunde das Falsche von den Nazis gelernt.

Na dankeschön! Es ist merklich: Schon so verknappt und (nur leicht) zugespitzt formuliert: Das Feld eignet sich hervorragend als Aufregerthema. Da können wir nur dankbar sein für die ausgewogene, ruhige, hier und da auch mal pointierte, aber nie flapsige Art und Weise, auf die Mendel, der schon bei der documenta fifteen als Stimme der Vernunft eingeladen wurde, bis er feststellen musste, dass diese eigentlich nur theoretisch gewollt war, diese Themen angeht. 

Quellendichte und Kontext

Natürlich bedient er sich dabei neben eigenen Erfahrungen und zahlreicher Quellen aus Zeitungen, Online-Beiträgen sowie Studien auch diverser anderer Autor*innen, wie unter anderem dem im letzten Jahr für den Deutschen Sachbuchpreis nominierten Natan Sznaider, der in seinem großartigen Band Fluchtpunkte der Erinnerung das Thema „Opferkonkurrenz“ anhand der Achille-Mbembe-Debatte und diverser Postionen Hannah Arendts sowie deren Rezeptionen behandelte, David Baddiel, Saul Friedländer, Chantal Mouffe, et al.

Etwas, das Mendel diesen Menschen zugesteht, wird ihm selber selten zuteil: Er bindet ihre (größtenteils) in Büchern getroffenen Aussagen in den Kontext ein. Seine hingegen werden allzu oft aus ebendiesem gerissen und gern für die jeweils notwendige Argumentation zurechtgebogen. Brauche ich etwas, das meine judenfeindlich geprägte „Israelkritik“ untermauert? Geht schon. Brauch ich etwas, das meine „Die-Palästinenser-Sind-An-Allem-Schuld“-Position bestätigt? Geht auch. 

Die sich um sich drehende Linke

Das passt im Übrigen zu einem Bericht, den ich kürzlich im Deutschlandfunk Kultur hörte, in dem es um junge, säkulare Israelis in Deutschland und vorrangig Berlin ging und jene religiösen Jüdinnen und Juden, die den jeweiligen Gemeinden angehören und oftmals aus Osteuropa und Russland beziehungsweise der ehemaligen Sowjetunion eingewandert waren. Neben dieser spannenden Gegenüberstellung fand sich vor allem ein Bild wieder, das die jungen, linksliberalen Israelis äußerten: Ich möchte meine Kritik am Staat und der Regierung nicht zu laut üben, denn die wird gern unreflektiert vereinnahmt. 

Darauf kommt auch Mendel in seinem dritten Kapitel „Aus der Geschichte verlernt — Die Linke und der Nahostkonflikt“ zu sprechen. Zunächst einmal stellt er fest, dass links zu sein in Israel etwas ganz anderes bedeutet, als es das in Deutschland tut. Allein schon dadurch, dass linke Kräfte sich im Land am Mittelmeer untereinander nicht so leidenschaftlich selbst zerlegen, wie sie es hier machen (da kommen wieder die Faktoren Selbstdefinition und Identität ins Spiel). (Überhaupt ist es spannend mithilfe des Buches noch einmal kurz nachzuvollziehen, wie es im Umfeld des Sechstagekriegs 1967 und des Zweiten Golfkriegs 1991 jeweils einen Turn innerhalb der Linken gab, was die Beziehung zu Israel angeht. Mendel kann Geschichte kompakt, aber ohne irreführende Auslassungen erläutern.)

Queer und vereinnahmt

Im Umfeld linker, teils queerer Berliner Israelis wirft der Historiker dann natürlich selbst einen dezidierten Blick auf Berlin, dabei speziell auf das ://about blank, das auch schon einmal DJs aufgrund ihrer BDS-Nähe auslädt (und in der Tat keine so genannte israelkritische Haltung duldet, was es in der Berliner Clubszene quasi einmalig macht) sowie, im Kontrast dazu, unter anderem den „internationalistischen CSD“, der sich zwar dem Antirassismus verschreibt, „womit dann aber vor allem wieder der Boykott von Israel gemeint war.“ 

Ganz ähnlich der „Radical Queer March“, auf dem „lauthals Slogans wie ‚From the River to the Sea, Palestine Will Be Free‘, Vom Fluss bis zum Meer, Palästina wird frei sein — eine Parole, die nicht das Ende der Besatzung, sondern die Abschaffung des Staates Israel in seinem gesamten Gebiet fordert“ skandiert werden. Hier besteht also das Risiko, dass säkulare und linke Israelis sich aufgrund ihrer kritischen Haltung gegenüber der Regierung versehentlich mit antisemitischen Zielen gemein machen. Quasi guilt by association.

Freundschaftspflicht und Feindschaftsgehabe

Ganz anders wiederum sieht es bei jenen „Biodeutschen“ aus, die nun endlich mal einen Schlussstrich unter diese ganze Holocaust-Malaise ziehen und das ganze Entschuldigungs- und Wiedergutmachungsthema abhaken wollen. Jenen spielt Israel im Sinne des Juden als Aggressor natürlich in die Hände. Nun sehen wir endlich, wofür wir uns angeblich zu entschuldigen hätten! Dass etwaige Wiedergutmachungen ohnehin eher Makulatur waren und eine wirkliche Einsicht kaum gewonnen wurde, auch das beschreibt Mendel sehr gut. (In Kürze gibt es auch unsere Besprechung zu Max Czolleks Polemik Versöhnungstheater, das hier thematisch sehr gut passt.)

So geht Mendel im ersten Kapitel „Die Bundeswehr an der Klagemauer — Die Debatte um die Staatsräson“ nicht nur auf mögliche Probleme der Begrifflichkeit „Staatsräson“ ein, sondern weiß auch zu erklären, dass es sich damals (aka unter Kanzler Konrad Adenauer) wie heute im Grunde um Realpolitik und auch Zweckmäßigkeit handelt. Diese Beziehung lässt sich ebensogut auf das gesellschaftliche und kulturelle Leben beziehen: Axel Springer, für den es im Sinne der Wiedergutmachung nur eine absolute, unbedingte und unkritische Freundschaft zu Israel gab (und für das Unternehmen noch immer gibt) und auf der entgegengesetzten Seite Günter Grass, der noch „mit letzter Tinte“ ein verdrehtes J’accuse schrieb. „Israel ist und bleibt Projektionsfläche deutscher Befindlichkeiten“, analysiert Mendel präzise. Passend dazu manch ein Kommentar oder diverse Einlassungen im Rahmen der gestrigen Bundestagsdebatte zu 75 Jahren Gründung des Staates Israel. 

Eine lehrreiche Mahnung der Vernunft

Nun wird das pragmatische Verbindungsmoment gern wieder von Verschwörungsfüchsen herangezogen, um von den „Globalisten“ zu reden. Aber hier sind sowieso alle Türen zu. Einige dieser Personen finden sich auch in dem losen, unstrukturierten, aber doch gefährlichen Zusammenschluss, der sich BDS (Boycott, Divestment and Sanctions; dt.: Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen) nennt und dessen Ziele so oder so interpretiert werden können. Mendel im Kapitel „Drei Buchstaben mit Schlagkraft — Der BDS-Streit“: „Was von progressiven Linken in aller Welt als >>gewaltfreier Widerstand<< vermarktet wird, ist in Wirklichkeit eine totalitäre Ideologie, die keine Differenzierung kennt.“

Und wenn wir, so scheint es, Meron Mendel mit einer Sache ärgern können, dann ist es undifferenziertes Gebaren. Verständlich. Ebenso ärgert ihn, dass die BDS-Praxis israelische Friedensaktivisten von internationalen Konferenzen auszuladen, „linke um Ausgleich bemühte Kräfte in Israel schwächt“. So leiden vor allem Friedens- und Dialogprojekte und nicht der Siedlungsbau. Am Ende geht es eben auch hier um die Bestätigung einer (kreierten) Identität. Ein starres Freund/Feind-Schema ist da nur zuträglich. Warum da auch ein gegen BDS gerichteter, nichts rechtsverbindlicher Bundestagsbeschluss nichts hilft — und ebenso erneut nur der Projektion dient — auch dies beschreibt Mendel in seinem eindrücklichen und unbedingt lesenswerten Buch, das sowohl gute Debattenstütze wie auch lehrreiche Mahnung an die Vernunft ist. 

AS

PS: Alle vier Kapitel lassen sich auch unabhängig voneinander lesen. Natürlich greift alles ineinander, doch ist beispielsweise jenes Kapitel zu BDS auch nachvollziehbar, ohne das vorhergehende gelesen zu haben. 

PPS: In Bezug auf eine abgesagte Veranstaltung schreibt Meron Mendel im Kapitel „Aus der Geschichte verlernt“ auf Seite 139: „Hier zeigt sich beispielhaft, dass es problematisch ist, wenn nur noch Personen etwas zu einem Themengebiet sagen dürfen, die damit persönlich verbunden sind. Nur wer >>betroffen<<. Ist, hat eine valide Meinung. Das führt einerseits zurück auf das Konzept der Definitionsmacht, andererseits auf Identitätspolitik, beides ist miteinander verwoben und wurde in besten Absichten entwickelt, nämlich um gesellschaftliche Benachteiligung und Diskriminierung zu bekämpfen. Für eine inhaltliche Auseinandersetzung ist es jedoch fatal, wenn der Hintergrund eines Sprechers wichtiger ist als seine Argumente.“ Word. 

Der Deutsche Sachbuchpreis 2023 wird am 1. Juni 2023 in der Hamburger Elbphilharmonie verliehen. Die Veranstaltung wird im Livestream übertragen; Tickets für die vor Ort-Verleihung gibt es hier.

Eine Leseprobe findet ihr hier.

Meron Mendel: Über Israel reden. Eine deutsche Debatte; März 2023; 224 Seiten; gebunden, mit Schutzumschlag; ISBN: 978-3-462-00351-2; Kiepenheuer & Witsch; 22,00 €

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