Mehr #Antisemitismus wagen

Einfach mal mehr Antisemitismus machen… ähhh… einfach mal mehr drüber lachen… und einfach mal mehr drüber lernen, natürlich! Jaja, das geht auch lachend, schon möglich. Doch Obacht: Verschlucken ebenso möglich wie ein träger Kloß nach instensiverem Hirnen. Aber auch eines gilt, wenn über Antisemitismus gesprochen wird, wie Herausgeberin Myriam Halberstam im Nachwort zur 2020 in ihrem Ariella Verlag erschienenen Anthologie #Antisemitismus für Anfänger festhält:

Word.

Nicht blöde, aber dumm

Dem ist wohl so oder kann zumindest so sein, möchte der Rezensent meinen. Fraglich allein, ob es diese feine, manches Mal auch feinsinnige, hin und wieder derbe, vielfältige und hintersinnige Sammlung von Karikaturen und ironisch-bissigen Texten denn auch in die Hände jener schafft, die „der vollständien Bedeutung des Wortes auf die Spur“ kommen sollten. Gerade im Kontext der aktuellen Geschehnisse, die auf den feigen und in seiner Brutalität im Grunde unvergleichlichen Angriff der Hamas vom 7. Oktober 2023 auf Israel, israelische Zivilist*innen auf einem Musikfestival, in Kibuzzen, folgten, wäre dies umso notwendiger.

Stattdessen begegnen wir zuhauf Menschen, die viel Meinung und wenig Ahnung haben. Viele Ressentiments und noch mehr Holz vorm Kopf. Viel Groll und mit „den Juden“ ein Ventil. Und sie heißen gar nicht mal alle Richard David Precht. Nein, leider, so muss mensch anmerken, sind manche, die hier mindestens einen leichten Degout auf „die Juden“ und „die Israelis“ haben und doch nur unschuldig ihre so genannte Israelkritik vorbringen möchten, gar nicht mal blöde. Aber eben doch dumm. Oder einfältig. Tja.

Die Frage stellt sich schon: Für oder gegen?

Einigen dieser Figuren begegnen wir auch in #Antisemitismus für Anfänger. Etwa bei Miriam Wurster, wenn sie eine Nachbarin in Bezug auf Corona an Herrn Mandelbaum gerichtet sagen lässt, dass sie nicht glaube, dass die Juden hinter dem Virus steckten, sondern eindeutig die Chinesen. Oder wenn bei Stern-Karikaturist Til Mette (dessen Cartoons laut Danksagung die Idee zum Buch anstießen) Verwunderung darüber herrscht, dass das Tragen der Kippa noch nicht verboten worden ist – wo es doch so gefährlich sei. (Wenn wir nun gerade tagtäglich hören, dass Männer ihre Kippa noch häufiger als ohnehin schon unter einer Kopfbedeckung verbergen, schlägt diese Karikatur gleich doppelt eine Kerbe.)

Bei Yaakov Kirschen dürfen wir bei bunter Illustration über die Frage „‘Für‘ oder ‚gegen‘?“ lachen, wenn es um eine Konferenz zum Thema Antisemitismus in Schweden geht. Sam Gross, der vortreffliche, im Mai diesen Jahres 89-jährig verstorbene Cartoonist des The New Yorker lässt seine Figuren die Kunst hinterm Hakenkreuz entdecken und Neonazis altern. Der in Köln lebende Cartoonist Dirk Meissner lässt seinen Protagonisten eine klare Trennung von Nazis und Israelis treffen, wenn dieser feststellt, dass Israel alle Kriege gewonnen habe (im Rahmen des Sechs-Tage-Krieges 1967 sprach man in der DDR übrigens u. a. von einem „Blitzkrieg“ und verglich die israelische Armee mit der Wehrmacht) und an anderer Stelle einen Reporter fragen, wieviel Prozent Antisemitismus man aktuell für vertretbar halte. Es ist komisch, wenn man vor Schmerz lachen muss.

Auch die Fähigkeit über sich selbst zu lachen, wird immer wieder kenntlich und herausgefordert, etwa in den Cartoons von Ruth Hebler, Heiko Sakurai oder jenen des Comic-Künstlers Ben Gershon, der einigen schon als Schöpfer des wöchentlich in der Jüdischen Allgemeinen erscheinenden, koscheren Comic-Strips Jewy Louis bekannt sein dürfte.

Endlich einen Nazi spielen dürfen!

„Lächerlichkeit, die mit Gefährlichkeit einhergehen kann, zu zeigen, für relativierbare Grundwerte einzustehen, darin sehen Freigeister der sprichwörtlich spitzen Feder ihre Aufgabe, schreibt Ellen Presser, freie Journalistin und seit 1983 Leiterin des Kulturzentrums der Israelitischen Kultusgemeinde München, in ihrem Vorwort. Genau dies könnten Cartoonisten in Bild und Pointe sowie auch Satiriker in Auftritt und Text sein.

Die jeweiligen Auftritte müssen wir uns zwar dazudenken, doch die Texte funktionieren auch so. Wenn etwa Wladimir Kaminer in gewohntem Ton von seinem enttäuschenden Penis berichtet und Juna Grossmann über ihre „Beschneidungskammer“. Schauspielerin und Sängerin Vivian Kanner nimmt sich Friedrich Hollaenders Couplet „An allem sind die Juden schuld“ zur Melodie der „Habanera“ aus George Bizets Carmen vor und interpretiert es neu.

Louis Lewitan berichtet von einer antisemitischen Außenhandelsbilanz (kann sich alles in allem sehen lassen) und Autor und Journalist Alan Posener wundert sich über den angeblich jüdischen Vater mit deutschen Wurzeln, während Schriftseller Dmitrij Kapitelman angeblich von der israelischen Mafia gedrosselten Pornos auf Pulau Weh… nun ja, begegnet und Schauspielerin und Autorin Adriana Altaras (zuletzt Besser allein als in schlechter Gesellschaft bei KiWi) freut sich über die Rolle ihres Lebens: „>>Tante, ich darf endlich einen Nazi spielen!<<“ (Apropos: Aaron Altaras, einer von Adrianas Söhnen, ist aktuell in der Serie Deutsches Haus zu sehen. Hier spielt er einen der Ankläger im Auschwitz-Prozess; die Figur ist fiktional, beruht laut Schöpferin Annette Hess allerdings wohl auf einer realen, jedoch nicht am Prozess beteilitgten Person. Unsere Rezension zur (Mini-)Serie folgt.)

Vor Lachtränen verschwimmende Realität

Kurzum: Es steckt sehr viel in den knapp einhundert Seiten. Durchaus ließe sich dank #Antisemitismus für Anfänger wohl auch einiges lernen, begreifen, verstehen. Und dies gar obwohl, wie uns Michel Bergmann (zuletzt u. a. Mammeleben bei Diogenes und die Krimireihe Der Rabbi und der Kommissar bei Heyne) in seiner Geschichte „DSDSN – Deutschland sucht den Supernazi“ über einen Programmchef wissen lässt, der Jude doch eigentlich viel zu nah dran sei, so an sich selbst und dem eigenen (Jüdisch-)Sein. Eine Einschätzung übrigens, die zuletzt häufiger zu vernehmen war.

So steckt der zumeist gelungene Witz dieser Anthologie also wie so oft in der Wahrheit, in der Abstrusität der Realität. Statt die Augen vor dieser zu verschließen, ist es doch sinnstiftender sie vor Lachtränen verschwimmen zu sehen. Allemal angenehmer ist es auch.

JW

PS: Wer es ergänzend noch ernsthaft(er) mag, denen sei Antisemitismus. Die 101 wichtigsten Fragen von Markus Roth, erschienen im C.H. Beck Verlag, empfohlen. Unsere Rezension folgt in Kürze.

PPS: Etwas, das in eine heutige Ausgabe des Bandes passen würde, ist dieser Auszug aus einem in der WELT veröffentlichten Text von Henryk M. Broder:„Wenden Sie sich der Person zu, die neben Ihnen sitzt, steht oder liegt und sagen Sie bitte in einem Tonfall, als wenn Sie nach der Uhrzeit fragen würden: ‚An allem sind die Juden und die Radfahrer schuld‘ oder ‚die Juden und die Vegetarier‘. Egal welche Gruppen Sie den Juden zur Seite stellen, neun von zehn Adressaten Ihrer Feststellung werden spontan fragen: ‚Wieso die Radfahrer?‘ oder ‚Wieso die Vegetarier?‘ Höchstens eine Person wird kurz überlegen und fragen: ‚Wieso die Juden?‘“

Schließlich endet Broder wie folgt: „Es ist nur eine Frage der Zeit, bis der 7. Oktober von irgendeiner UN-Organisation, vorzugsweise der UNESCO, zum Weltkulturerbetag ausgerufen wird.“ Das ist so witzig, weil es wahr ist.

Das Cover mit einer Illustration von Katharina Greve

Myriam Halberstam (Hrsgin.): #Antisemitismus für Anfänger; Mit einem Vorwort von Ellen Presser; Oktober 2020; 96 Seiten; Hardcover, gebunden, durchgehend illustriert; Format: 21,1 x 24,7 cm; ISBN: 978-3-945530-29-0; Ariella Verlag; 18,00 €

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