Die CDU: Eine Fortschrittspartei?

Norbert Röttgen, einer der möglichen Aspiranten auf den CDU-Vorsitz, sieht seine Partei als Kraft der Mitte, die ein breites Wählerspektrum abdeckt – auch und vor allem ein konservatives. Der neue Parteichef, so Röttgen, sollte aber aus der großen Mitte kommen, nicht einer der wohl eher kleineren Gruppen, wie er an diesem Montag in einem Interview im Deutschlandfunk bekundete.

Wo sind die Inhalte?

Unserer Ansicht nach hat er damit recht. Aber, wie wir bereits vergangene Woche ausgeführt haben, in dieser Diskussion geht es „nur“ um Personalien. Die eigentlich wichtigere Frage sollte jedoch auch weiterhin sein, welche inhaltlichen Positionen die CDU vertritt. Natürlich müssen (oder sollten) Inhalte und Personen zueinander passen, aber jenseits der Personaldebatten sollte die CDU sich klar darüber werden, welche Positionen sie in Zukunft verfolgen will.

Das gilt besonders, da ein mögliches Ampelbündnis Positionen aus der sozialen Mitte selbst besetzen wollen dürfte. Umso mehr gibt es genau in diesem Bereich den Wettstreit der Ideen zu suchen, nicht irgendwo am rechten Rand, denn – wie wir unmittelbar nach der Bundestagswahl zeigten – die vergangene Wahl wurde in der Mitte gewonnen, während die politischen Ränder verloren haben.

Machen, was richtig ist

Die Arithmetik der Macht führte in der Vergangenheit bereits mehrfach dazu, dass Kanzlerinnen und Kanzler, Parteivorsitzende, begannen ihre Macht zu verlieren, als sie persönlich dachten „das Richtige“ zu tun, nicht das, was ihnen ihre Partei vorschrieb. Bei Gerhard Schröder war es die Agenda 2010, an der seine Partei noch immer knabbert.

Angela Merkel hat ihre Partei mit der Aussetzung und Abschaffung der Wehrpflicht, dem Atomausstieg, der „Ehe für alle“ und vor allem ihrer Flüchtlingspolitik herausgefordert. Und dennoch dürften es nicht zuletzt diese Politikfelder sein, die die CDU (und auch die CSU) näher unter die Lupe nehmen sollte oder vielmehr das, wohin sich die Debatte auf diesen Feldern in den vergangenen Jahren entwickelt hat. Den Rechtspopulisten hinterherzulaufen dürfte nämlich wenig erfolgsversprechend sein.

Die Umwelt- und Klimapolitik

Fangen wir anlässlich des derzeit laufenden UN-Klimagipfels in Glasgow bei einem der wohl aktuellsten Themen, der Umweltpolitik, an. Jahrzehntelang drehte sich die Debatte hierzulande darum, ob wir Strom aus Kernkraft wollen oder nicht. Der gesellschaftliche Konsens gegen die Kernkraft wuchs stetig und 2011 gab es das Zeitfenster für Merkel, den Atomausstieg in der kommenden Dekade durchzusetzen.

Erst danach, mit dem Pariser Klimaabkommen 2015, begannen die fossilen Emissionen deutlicher in den Mittelpunkt zu rücken. Und Deutschland – der Pfad zum Atomausstieg war nun eingeschlagen – steht nun vor dem Problem, aus nuklearen und fossilen Energieträgern gleichzeitig auszusteigen – beispiellos in der westlichen Welt. Wenn wir beides wollen – und das sollten wir -, dann werden harte Einschränkungen auf uns zukommen.

Lenkung und Lenkungswirkung

Der CO2-Preis wird deutlich steigen müssen, um eine wirkliche Lenkungswirkung zu erzielen. Und ja, Lenkungswirkung erzielt man nur, wenn die Verbraucherinnen und Verbraucher, die Bürgerinnen und Bürger, die Unternehmen dies spüren. Die jetzt also kritisierten sozialen Verwerfungen durch steigende Gas- und Ölpreise dürften nur ein Vorgeschmack darauf sein, was uns noch erwartet. Zu erwarten hat. Das gilt ähnlich für einen beschleunigten Ausbau von Stromtrassen, mehr Flächen für Solar- und Windenergie oder vielleicht auch eine Umstellung der Ernährung.

Ja, Lenkung heißt, in das Leben der Menschen einzugreifen und vermutlich müssen sie es merken. Vermutlich wird es Verzicht bedeuten (auch wenn Luisa Neubauer in Teilen etwas anderes sagt) und der ist unpopulär. Dennoch wird sich eine Partei, die in die Zukunft blicken möchte, diesem Dilemma nicht entziehen können und Lösungen, vielleicht auch manche Zumutung, präsentieren müssen.

Die Gesellschaftspolitik

Eine Zumutung dürfte für viele in der CDU auch die „Ehe für alle“ gewesen sein – warum, ist nur bedingt nachvollziehbar. Die generelle gesellschaftliche Akzeptanz für nicht-heterosexuelle Beziehungen scheint bereits seit längerem zuzunehmen (gut so!), die Debatte um die Allianz Arena im vergangenen Sommer spricht Bände.

Dennoch gibt es weiterhin noch viele offene Punkte: Das Transsexuellengesetz diskriminiert bis heute viele Menschen, die Gleichstellung von Mann und Frau (und divers) ist auch noch lange nicht dort, wo sie sein sollte. Wenn selbst der CSU-Vorsitzende Markus Söder sagt, dass „jede Liebe segnenswert“ sei, dann sollte es doch für die größere Schwester CDU und ihre vielen Mitglieder im Lande kein Problem sein, „nicht-traditionelle“ Beziehungen mit der „klassischen“ Mann-Frau-Kinder-Sache in Einklang zu bringen. Vermutlich ist das eher eine Debatte, die bei vielen Mitgliedern an der viel beschworenen „Basis“ und deren Köpfen zu führen ist. Sie jedoch endlich zu führen, das wäre die Aufgabe der neuen Parteiführung.

Die Außen- und Sicherheitspolitik

In der Außenpolitik droht unter einer Ampel ein inhaltliches Vakuum zu entstehen – oder vielmehr fortzubestehen, denn der bisherige Außenminister Heiko Maas (SPD) hat eine Performance abgeliefert, die vielleicht nur noch von Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) unterboten wird. Aus den Koalitionsverhandlungen ist bekannt, dass die Mittel für die Bundeswehr wohl gekürzt oder zumindest nicht erhöht werden sollen, die SPD dürfte die Anschaffung von bewaffneten Drohnen weiter verschleppen.

Jenseits konkreter Auf- und Ausrüstungsfragen geht es aber auch um strategische Punkte: Chinas Aufstieg stellt eine große Herausforderung dar, Russland zündelt in der Ukraine, in Belarus, in Syrien und wer weiß wo noch. Joe Biden droht die Macht bereits in einem Jahr bei den Midterm-Wahlen langsam zu erodieren und die EU steht angesichts der autoritären Politik in Warschau und Budapest vor der Sinnfrage. Und wie lange das Brexit-Abkommen noch hält, wird sich auch zeigen.

Die CDU hat sich immer als Partei des Multilateralismus verstanden: Westbindung, europäische Integration, transatlantische Freundschaft sind die Stichworte. Von den Ampelparteien gibt es nur wenig dazu. Wie gesagt, vermutlich keine Drohnen für die Bundeswehr, dafür Waffen für die Ukraine. Ob von der neuen Koalition so viel mehr zu erwarten ist, steht in den Sternen, aber für die CDU bietet sich enormes Potential, sich einfach mit ihren Grundwerten im Diskurs zu positionieren. Diese Chance sollte sie nicht vertun.

Die Migrationspolitik

Ein letzter Punkt: die Migrationspolitik. Und hier müsste erst einmal mit ein paar Mythen aufgeräumt werden. Angela Merkel hat die Grenzen nicht geöffnet, sie hat sie nicht geschlossen. Flüchtlinge und Migranten waren bereits in der EU und wollten unter anderem nach Deutschland. Während „Sympathieträger“ wie Viktor Orbàn dem Flüchtlingsstrom mit Hass begegneten, zeigte Deutschland sein freundliches Gesicht. Mitgefühl und Empathie, gerade so, wie man es von einer Partei mit dem C im Namen eigentlich erwarten darf. Und ausgerechnet hier sollte sich die hässliche Fratze der Union zeigen.

Nun ist das Thema Migration nicht mehr so präsent wie noch vor einigen Jahren. An manchen Stellen klappt sogar die Integration gut, wir scheinen „es also geschafft zu haben“, zumindest ein wenig. Klar, nicht alles ist perfekt und die schnelle Rückkehr der aus Afghanistan, dem Irak oder Syrien Geflüchteten in ihre befriedeten Heimatländer scheint sich nicht so einfach realisieren zu lassen (erneut: hierfür braucht es eine gute Außenpolitik!).

Gleichwohl stehen wir vor neuen Herausforderungen: Belarus hat eine neue Route geöffnet, die uns mehr beschäftigen sollte, selbst wenn das nur einer von Putins Puppenspielertricks ist. Der Klimawandel wird viele Menschen ihre Heimat kosten, weiter zunehmende Weltbevölkerungszahlen kommen dazu. Und die Corona-Pandemie hat viele Menschen auf der Suche nach sich selbst zurückgelassen. Viele dürften neue Chancen suchen und die glaubt man zumeist dort zu finden, wo bereits Wohlstand, Demokratie und Frieden herrschen. Und hier bräuchte es eine liberal-konservative CDU, die Menschen nicht ausgrenzt, nicht wegschubst, sondern begrüßt, integriert und Chancen gewährt.

Gesucht: Eine Fortschrittspartei

All diese Entwicklungen lassen eine Menge neue Herausforderungen für unser Land erwarten. Die Frequenz der Krisen – Angela Merkel wird ja gerne als „Krisenkanzlerin“ bezeichnet – dürfte in Zukunft nicht unbedingt ab-, sondern eher zunehmen. Viele Punkte und Entwicklungen sind bereits heute absehbar. Was wir nun als Gegengewicht zu einer Ampelkoalition bräuchten, wäre eine moderne Volkspartei, die die Gegenwart so annimmt, wie sie ist. Und die darüber hinaus ihr an manchen Stellen angestaubtes Weltbild vielleicht auch einmal überdenkt. Hieraus wird sie manch schmerzliche Konsequenz ziehen müssen, aber wenn sie in Zukunft wieder erfolgreich sein will, wird dies unausweichlich sein.

Der CSU-Übervater Franz-Josef Strauß sagte einst, dass konservativ sein bedeute, sich an die Spitze des Fortschritts zu stellen. Hierzu braucht es Courage, wie es bereits oben gezeigt wurde. Auf wen auch immer die CDU sich als neue/n Vorsitzende/n einigt, wichtig wird sein, dass sie oder er den Willen, die Kraft und die Macht hat, die Partei zu einer echten Fortschrittspartei zu machen.

HMS

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