Ein bengalisch-sibirisches Spiegelbild

Russische Literatur hat ihren ganz besonderen Reiz. Fjodor Dostojewski – im November wäre sein 200. Geburtstag gewesen – dürfte mitunter einer der bekanntesten Literaten russischer Sprache sein, aber selbstverständlich gibt es viele, viele mehr, die sich literarisch mit den Freuden und Leiden der Menschen in diesem riesigen Land auseinandersetzten. Die sibirische Kälte, die polare Weite, die bäuerlichen Strukturen oder die vielmals noch heute spürbare Rohheit sind häufig mittel- oder unmittelbare Motive in der Literatur aus und über Russland.

Ein Vater verbindet zwei Frauen

Autorin Shumona Sinha // © Francesca Mantovani / Editions Gallimard

Vollends fasziniert von russischer Literatur ist auch Tania, die Hauptakteurin in Shumona Sinhas Roman Das russische Testament, der 2020 im französischen Original erschien und in der deutschsprachigen Übersetzung von Lena Müller im September 2021 bei Edition Nautilus aufgelegt wurde. In zwei Kapiteln erzählt Sinha die Geschichte Tanias und ihre Jugend in Kalkutta in den 1980er-Jahren sowie ihre Faszination für die russische Literatur, vor allem die Geschichte des zu Sowjetzeiten der leninistisch-stalinistischen Zensur unterworfenen Raduga Verlags sowie dessen jüdischem Inhaber Lew Kljatschko.

In zwei weiteren Kapiteln wird ihr Kljatschkos mittlerweile über 80-jährige Tochter Adel gegenübergestellt, die von Tania etwa Anfang der 2000er-Jahre kontaktiert wurde, um mehr über deren Vater, sein Leben, sein Schaffen zu erfahren. Adel lebt in einem Altenheim in St. Petersburg und ein Brief Tanias mit der Bitte um ein Treffen bewegt Adel dazu, sich zum Ende ihres Lebens noch einmal intensiv mit ihrer persönlichen Vergangenheit und vor allem ihrem Vater auseinanderzusetzen.

Eine Tochter kämpft

Hauptfigur ist und bleibt aber Tania, die in nicht armen, aber auch nicht wohlhabenden Verhältnissen im sozialistisch regierten Bundesstaat Westbengalen aufwächst. Ähnlich wie Isabela Figureido es in ihrer Erinnerung beschreibt (unsere Besprechung zu Roter Staub folgt), ist auch bei Tania nicht alles gut, obwohl der Sozialismus dies doch verspricht. Das politische System und Klima sind schwierig und auch zu ihren Eltern hat Tania ein komplexes Verhältnis.

Ein Zitat, das schon unsere Weihnachtsbücherei begleitete

Die Mutter ist mit der Tochter alles andere als zufrieden, das Verhältnis zu Tania schwierig, später zerrüttet. Der Vater hingegen – ein Buchhändler – hat weitaus mehr und besseren Einfluss auf Tanias Schicksal. Von ihm besorgt sie sich von klein auf Bücher, lernt diese und Literatur im Allgemeinen zu schätzen. Die russischsprachige Literatur soll Tania so sehr faszinieren, dass sie später Russisch lernt, mit russischen Diplomaten verkehrt und wie bereits gesagt, wird Lew Kljatschko sie in seinen Bann ziehen, wie sonst kaum jemand.

Eine Tochter erinnert sich

Adel wiederum wirkt ein wenig wie das Spiegelbild Tanias. Sie ist alt, hat ihr Leben in großen Teilen gelebt und über ihre Figur wird die Geschichte eines sozialistischen Systems erzählt. Die Zensur der Sozialisten wird an verschiedenen Stellen thematisiert – Adels Vater Lew wurde das Leben vor allem wegen „systemkritischer“ Literatur zur Hölle gemacht; er und seine gesamte Familie mussten unter der Meinungs- und Gedankenkontrolle leiden – ähnlich wie Tania unter dem Regime ihrer Mutter leiden musste.

Mit den beiden Frauen und ihren jeweiligen Erlebnissen und Perspektiven bekommen wir als Leserinnen und Leser einen Eindruck vom Leben und manch einem Leiden im Sozialismus. Lew Kljatschko hätte ohne stalinistische Terrorherrschaft vermutlich keine solchen Schwierigkeiten bekommen, hätte bei Tania aber vielleicht auch keine solche Obsession ausgelöst. Seine Tochter Adel hätte ein anderes Leben führen können, der Raduga Verlag wäre vielleicht noch heute eine Größe.

Widerstände überwinden

Übersetzerin Lena Müller // © Franziska Wenzel

In Tania ist dieses Scheitern, diese Komplexität des heutigen Lebens erneut angelegt. Auch bei ihr gibt es begünstigende Faktoren, aber auch solche, die sie und ihre Möglichkeiten einengen. Ihre Liebe zur Literatur, zu vielen russischen Dingen, der Sprache, Kultur und den Menschen, ist ähnlich ungern gesehen wie die von der Autorin immer wieder peripher eingestreuten homosexuellen Andeutungen und Elemente in Das russische Testament.

In Kombination und dem Gesamtbild von Shumona Sinhas neuem Roman ergibt sich also ein durchaus stimmiges Bild. Das Leben, die Entwicklung und die Perspektiven zweier Frauen auf ihr Leben, ihr Sein und ihre Chancen in einem sozialistischen Umfeld werden von ihr in den Figuren Adel und, meist noch etwas greifbarer, Tanias gegenübergestellt. Die Literatur und Adels Vater Lew Kljatschkko sind das verbindende Element zwischen den beiden Frauen und das macht Das russische Testament so anschaulich wie empfehlenswert. Hätten Shumona Sinha und ihre Übersetzerin Lena Müller nicht bereits 2016 mit dem Roman Erschlagt die Armen! den Internationalen Literaturpreis gewonnen, wären sie spätestens mit diesem Buch heiße Anwärterinnen auf diese Auszeichnung geworden.

HMS

Einen Blick ins Buch gibt es hier.

Shumona Sinha: Das russische Testament; Aus dem Französischen von Lena Müller; September 2021; Gebunden mit Schutzumschlag; 184 Seiten; ISBN: 978-3-96054-260-5; Edition Nautilus; 20,00 €

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