Rost am Ring

Seit Putins Angriffskrieg und eigentlich auch schon zuvor stellen wir uns vielfach die Frage: Was geht in der kollektiven Seele der Russinnen und Russen vor sich? Wir verbinden Russland mit eisiger, sibirischer Weite, Gazprom und Atomwaffen, aber auch mit teils brachialer Gewalt. Menschen wie der in Russland lebende Autor Jens Siegert bringen uns Kultur und Wesen der russischen Nation bei.

Auch literarisch hat Russland viel zu bietenDostojewski und Tolstoi sind die Klassiker, Ljudmila Ulitzkaja wiederum ist eine der profiliertesten putinkritischen Stimmen der heutigen Zeit. Und dann gibt es noch Vladimir Sorokin, einen ebenfalls weithin bekannten russischen Schriftsteller, der hierzulande bereits durch einige Veröffentlichungen auf sich aufmerksam machte – einige davon recht prächtig im Verlag Ciconia Ciconia erschienen, der wiederum im vergangenen Jahr für den Berliner Verlagspreis nominiert war.

Kurz und weniger kurz erzählt

In einem anderen Verlag, bei Kiepenheuer & Witsch, ist bereits im Frühjahr 2022 ein anderes Buch von Sorokin erschienen, nämlich Die Rote Pyramide. Dabei handelt es sich um eine Sammlung aus neun kurzen oder teils auch nicht ganz so kurzen Geschichten, die Sorokin bereits vor einiger Zeit verfasste, die aber erst im vergangenen Jahr von Andreas Tretner und Dorothea Trottenberg ins Deutsche übertragen wurden. 

Neun Erzählungen, die zwischen 2002 und 2018 erstmals erschienen sind, werden hier zu einem Sammelband zusammengefügt. Manche wie „Das rostige Mädchen“ aus 2018 sind gerade einmal zehn Seiten lang, andere wie „Lila Schwäne“ aus 2017 hingegen um die 40 Seiten. Wirklich kurze Erzählungen, die von den Leserinnen und Lesern in ein paar ruhigen Minuten weggesnackt werden können, wechseln sich mit solchen ab, die ein wenig mehr Zeit und Aufmerksamkeit erfordern, aber auch keinen halben Nachmittag.

Kuss von Kultur und Geschichte

Allen oder zumindest den meisten ist dabei gemein, dass sie Bezug auf die russische oder auch sowjetische Kultur und Geschichte nehmen. Wir finden Anspielungen auf den untergegangenen Sozialismus, das Leid vieler Menschen, das sich durch die vielen Krisen der vergangenen Jahrzehnte zieht oder überhaupt den oft tristen Alltag im (post-)sowjetischen Russland.

Eine möglichst genaue Kenntnis russischer oder slawischer Symbolik ist für das Verständnis der Geschichten dabei nicht erforderlich, eröffnet aber dennoch eine zusätzliche Erkenntnisebene. „Das rostige Mädchen“ beispielsweise ist eine schöne Allegorie auf die Dysfunktionalität des (post-)sowjetischen Russland oder auch die titelgebende rote Pyramide ist als eindeutige Anspielung auf den Sozialismus zu verstehen. Die Metaphorik bei Sorokin ist eindrücklich und zeigt sich umso mehr, wenn die Leserinnen und Leser etwas über die Geschichte und Kultur des flächenmäßig größten Landes der Welt wissen.

Keine Überzeugung

Das bietet eigentlich genügend Stoff und Potential für eine schöne und unterhaltsame Sammlung an Erzählungen. Und dennoch wollte der Funke nicht so ganz überspringen. So sehr Sorokins Geschichten auf Kultur und Gesellschaft Bezug nehmen, ein wenig sperrig oder gar hölzern lesen sich die Geschichten teilweise doch auch. Es ist nicht so, dass sie langweilig wären, aber richtig packend ist das Leseerlebnis leider auch nicht.

Vielleicht liegt es in meinem Fall daran, dass ich mir das Buch in den falschen Momenten zur Hand genommen habe. Dann aber höre ich ähnliche Stimmen auch von Menschen, die sich Die Rote Pyramide besorgt und gelesen haben. Nun kann natürlich nicht jede Kurzgeschichte gleich gut sein und alle Leserinnen und Leser gleich ansprechen. Aber wenn wir andere Sammelbände einzelner Autoren oder (wie hier) Autorinnen aus dem osteuropäischen Raum nehmen – beispielsweise Rumena Buzarovskas herrliche Persiflagen, die sie in Mein Mann gesammelt hat, oder die bereits genannte Ljudmila Ulititzkaja und ihren Sammelband Alissa kauft sich den Tod –, dann haben wir bereits mehrfach bessere Leseerfahrungen bei Kurzgeschichten gemacht.

Nichtsdestoweniger gibt es bestimmt eine Zielgruppe, die sich mit Vladimir Sorokins Geschichten identifizieren können wird und die sich von seinen Erzählungen gut unterhalten fühlen dürfte. Bei mir war das für die Mehrheit der in Die Rote Pyramide versammelten Geschichten zwar nicht unbedingt der Fall, aber glücklicherweise sind die Geschmäcker unterschiedlich.

HMS

Eine Leseprobe findet ihr hier.

Vladimir Sorokin: Die rote Pyramide. Erzählungen; Februar 2022; Aus dem Russischen von Andreas Tretner, Dorothea Trottenberg; Hardcover, gebunden mit Schutzumschlag; 192 Seiten; ISBN 978-3-462-05370-8; Kiepenheuer & Witsch; 22,00 €

Unser Schaffen für the little queer review macht neben viel Freude auch viel Arbeit. Und es kostet uns wortwörtlich Geld, denn weder Hosting noch ein Großteil der Bildnutzung oder dieses neuländische Internet sind für umme. Von unserer Arbeitszeit ganz zu schweigen. Wenn ihr uns also neben Ideen und Feedback gern noch anderweitig unterstützen möchtet, dann könnt ihr das hier via Paypal, via hier via Ko-Fi oder durch ein Steady-Abo tun – oder ihr schaut in unseren Shop. Vielen Dank!

About the author

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert