„Einladung“ zum „Kartoffelschälen“

Heute ist ein Feiertag in Russland. Der eine oder die andere mag sich jetzt fragen, wieso wir uns mit Feiertagen in Russland beschäftigen sollten – zumal angesichts des vor fast auf den Tag genau vor einem Jahr gestarteten Angriffskriegs auf die Ukraine. Dieser Feiertag ist jedoch gerade ob dieser Lage ein besonderer, wurde er doch 2002 – und damit unter dem aktuellen Kriegstreiber Putin – wiedereingeführt.

Es handelt sich um den Tag des Verteidigers des Vaterlands. Traditionell wird an diesem Tag der Anfänge der Roten Armee gedacht und somit genau der Gruppe, deren Nachfolger dieser Tage die von Putin und seinen Schergen verordneten Gräuel in und um Bachmut, Mariupol und Cherson (oder so viele weitere Orte in der Ukraine) verüben. Wie in vielen autoritären und militaristisch geprägten Gesellschaften nimmt das Militär in Russland noch heute eine besondere Stellung in der öffentlichen Wahrnehmung ein und wird über alle Maßen glorifiziert.

Die Grauen der Roten Armee

Die mutmaßlichen Massaker der russischen Soldaten in Butscha, Irpin, Charkiw oder Mariupol sprechen jedoch eine wenig glorreiche Sprache. Im Gegenteil, hier scheinen grausamste Foltermethoden zur breiten Anwendung gekommen zu sein und viele, viele Menschen unter der Brutalität der russischen Armee gelitten zu haben oder noch immer zu leiden.

Glorifizierung ist also mehr als fehl am Platz, reiht sich aber gleichsam in eine unrühmliche gewaltvolle Tradition der Roten Armee ein, denn diesen übermäßigen Hang zur Gewalt gab es gerade in der Sowjetarmee schon früh. Ein Beispiel, sich dieser Gewalt zu nähern, ist die Untersuchung der Professorin für Gender Studies an der Central European University in Wien (früher Budapest – bis Viktor Orbán die Universität vertrieb), Andrea Petö. In ihrem im Herbst 2021 bei Wallstein in der Übersetzung von Krisztina Kovács erschienenen Buch Das Unsagbare erzählen – Sexuelle Gewalt in Ungarn im Zweiten Weltkrieg wirft sie ebenfalls ein Licht auf soldatische Gewalt und das Unrecht, das vielen Frauen in jener Episode widerfuhr.

Grausame Mittellage

Ungarn war ein Mittelland, der US-Forscher Timothy Snyder würde es vielleicht in seine Definition der Bloodlands einbeziehen. Zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion eingepfercht war das lange Zeit in der Habsburger Monarchie eingegliederte Land eher eine Art Durchgangsstation für die deutschen oder sowjetischen Heere – und gleichsam mit Nazi-Deutschland verbündet.

Es erstaunt daher nur wenig, dass die Wehrmacht in Ungarn nicht so sehr wütete, die Rote Armee zum Ende des Zweiten Weltkriegs oder in der direkten Nachkriegszeit dafür umso mehr. All das sollte mensch im Hinterkopf haben, wenn sie oder er sich Petös komplexes Buch zur Hand nimmt. Denn sie nimmt sich einer äußerst schweren Thematik an, die im Untertitel bereits erkenntlich wird: sexuelle Gewalt als Waffe gegen das ungarische Volk.

Forschung im Nebel

In vier größeren Kapiteln zuzüglich Einleitung und Fazit nähert sie sich diesem Komplex. Ganz wissenschaftlich startet sie mit einer Illustration der ganz und gar nicht einfachen Methodologie und dem Stand der Forschung in Ungarn. Dabei wird gleich zu Beginn deutlich, wie schwierig es aus mehreren Gründen ist, zu solch einem Thema seriös zu forschen – ein Problem, das vor allem im dritten Kapitel noch einmal intensiv aufgegriffen wird.

Sexuelle Gewalt und Vergewaltigung sind mit einem hohen Maß an Scham behaftet – vor etwa 80 Jahren noch einmal deutlich mehr als heute. Selbst die sowjetischen Besatzer dürften sich dessen und der Unrechtmäßigkeit ihrer Taten bewusst gewesen sein, verschleierten sie die Deportation zur sexuellen Gewalt doch häufig damit, dass sie die Frauen holten, um „Kartoffeln zu schälen“. Es ist nur folgerichtig, dass vielfach keine Aussagen von Betroffenen und/oder Zeugen zur Verfügung stehen, einfach weil die Hemmschwelle, über ein solches Martyrium zu sprechen, so groß war und ist und teils nicht einmal eine angemessene Sprache existierte. Seriöse Quellenarbeit ist somit extrem kompliziert.

Dazu gehört auch, dass gerade im Zusammenhang mit der sowjetischen Besatzung strenge Zensurregeln vorherrschten: In der Öffentlichkeit konnte nicht gefahrlos über sexuelle Gewalt gesprochen werden, denn Stalins Schergen, der KGB und die Rote Armee waren überall und bekanntermaßen nicht zimperlich. Wenn es doch zu Anzeigen gegen sowjetische Soldaten kam, dann wurden diese häufig unter den Tisch gekehrt. Und die Archive in Russland sind bis heute alles andere als offen – eine zusätzliche Hürde für eine saubere Forschungsarbeit.

Nichts bleibt ohne Folgen

Und doch schafft es Petö sehr eindrücklich, den Kriegsvergewaltigungen und ihren Ursachen eine Typologie zu geben – und auf dieser Basis viele Schlüsse für dieses Phänomen zu ziehen. Folgen wie Schwangerschaften, Geschlechtskrankheiten, gesellschaftliche Ausgrenzung oder Widerstand finden bei ihr ebenso Platz wie die durchaus auch vorhandene Gewalt von Soldatinnen gegen Frauen oder Illustrationen, wie Frauen durch den entwürdigenden Akt der Vergewaltigung objektifiziert werden. Was leider fast in Gänze fehlt, ist eine Untersuchung von sexueller Gewalt gegen Männer, aber hier scheint die Datenlage aus nachvollziehbaren Gründen noch deutlich schlechter zu sein. Dass aber die alleinige Herabsetzung der missbrauchten Frauen auch auf die Männer und ganze Völker überaus verletzend wirkt, arbeitet Petö wunderbar heraus.

Wie aber das Schweigen und das Verschweigen zu dieser gewaltsamen Epoche ganze Generationen bis heute prägt, wie besonders nach dem Ende des Kalten Krieges eine Art „erinnerungspolitische Wende“ einsetzte und nun auch in Kunst, Literatur, Film, Forschung, Gesellschaft und vielen anderen Bereichen endlich diese Problematik begonnen wird zu erzählen, auch das analysiert Andrea Petö überaus eindrücklich. Gerade ob der vorab geschilderten schwierigen Daten- und Quellenlage kann dies nicht unterschätzt werden.

Schwerste Kost

Es dürfte selbsterklärend sein, dass die Lektüre von Das Unsagbare erzählen alles andere als leichte Unterhaltung ist. Das bringt die Thematik mit sich, aber auch der wissenschaftliche Standard, den Andrea Petö trotz aller Schwierigkeiten durchgängig an ihre Analyse anlegt. Ihr Buch beschreibt vielleicht nur einen kleinen Ausschnitt der grausamen Nachkriegsrealität und das vielleicht auch „nur“ in Ungarn (und in Teilen auch in Österreich).

Auch wenn das nicht repräsentativ für andere Fälle sein mag, durch ihre Arbeit bei der Typologisierung und das Heranziehen einiger anderer Beispiele – die Japaner begingen im Zweiten Weltkrieg ebenfalls schwere sexuelle Gräuel gegen das chinesische und das koreanische Volk, in Bosnien gab es im Zuge der jugoslawischen Zerfallskriege ebenfalls schwere Fälle sexueller Gewalt – leistet die Autorin also eine wichtige Arbeit für Wissenschaft, Geschichtsschreibung und auch unseren heutigen Diskurs.

Vermeintlichen Ruhm entlarven

Einen – aus heutiger Sicht umso gelungeneren – Abschluss findet die Autorin, indem sie hervorhebt, wie wichtig die Öffnung der Archive in der Ukraine für die Forschung war und welche vergifteten „Schätze“ wohl noch in russischen Sammlungen schlummern. Als die russische Armee sich aus Cherson zurückzog, wurde bekannt, dass sie wohl einige volkskundliche Museen geplündert habe, von der Deportation vieler Menschen – vor allem Frauen und Kinder – ganz zu schweigen.

Wenn also Russland heute den Tag des Verteidigers des Vaterlands begeht, dann ehrt das Land eine Armee, die bereits vor 80 oder 100 Jahren grausame Taten begangen hat. Und eine Armee, deren de facto Nachfolgerin heute scheinbar nicht viel besser geworden ist. Sich mit dieser Geschichte zu beschäftigen, ist alles andere als angenehm, aber vielleicht genau das, was wir Putin dieser Tage im Kleinen entgegensetzen können, um den vermeintlichen Ruhm der sowjetischen oder heute russischen Armee zu entlarven.

HMS

Andrea Petö: Das Unsagbare erzählen. Sexuelle Gewalt in Ungarn im Zweiten Weltkrieg; Aus dem Ungarischen von Krisztina Kovacs; Oktober 2021; 240 Seiten, 10 Abbildungen; Hardcover gebunden mit Schutzumschlag; ISBN 978-3-8353-5072-4; Wallstein Verlag; 28,00 €

Unser Schaffen für the little queer review macht neben viel Freude auch viel Arbeit. Und es kostet uns wortwörtlich Geld, denn weder Hosting noch ein Großteil der Bildnutzung oder dieses neuländische Internet sind für umme. Von unserer Arbeitszeit ganz zu schweigen. Wenn ihr uns also neben Ideen und Feedback gern noch anderweitig unterstützen möchtet, dann könnt ihr das hier via Paypal, via hier via Ko-Fi oder durch ein Steady-Abo tun – oder ihr schaut in unseren Shop. Vielen Dank!

About the author