Innere Zerrissenheit und die Suche nach sich selbst sind Themen, die uns vor allem in der Jugendzeit beschäftigen – auch wenn sie in mancher Mid- oder Quarterlife-Crisis immer wieder auftauchen. Der 2019 im Querverlag erschienene Roman Und in mir ein Ozean von Dennis Stephan erzählt die Geschichte einer solchen Suche nach sich selbst. Der Autor beweist nach seinem 2013 erschienen Debütroman Der Klub der Ungeliebten, dass er mit großem Ein- und Nachdruck erzählen kann.
Und in mir ein Ozean behandelt Wechsel und Wachstum, Natur und Kultur, Religion und Kult, Sonne und Mond. Protagonist der Novelle ist der junge Arthur Sjöberg, Haupthandlungsstränge sind seine Reise zu sich selbst sowie das wechselhafte Verhältnis zu seiner Mutter. Aufgewachsen auf der Insel Rügen, wohlbehütet und gleichzeitig zum Eigenbrötler herangewachsen, bekommt es der eben erst volljährig gewordene Arthur mit der vollen Wucht des Lebens zu tun. Gezwungen seine Heimat zu verlassen, startet er eine mehrjährige Reise, die ihn eine Reihe von Menschen, Orten und Personen kennenlernen lässt. Nur seine Mutter wird ihm nach den Kindertagen in der Ostsee-Idylle wohl noch lange ein Rätsel bleiben – und damit auch er sich selbst. Nach Stationen in Hamburg, Amsterdam und Berlin verschlägt es Arthur am Ende zurück an den Anfang: auf die Insel der Kreidefelsen, wo er glaubt, sich endlich zu finden.
Auf jeder seiner Stationen lebt Arthur vollkommen unterschiedliche Leben: Das Throuple mit dem einstmals glücklichen Pärchen wird ihn ebenso prägen wie der regelmäßige Kirchgang, der nicht das einzige Opium ist, das ihm sein Sugardaddy an einem anderen Ort gewährt. Der einzig erwähnte Kontakt, der ihm nach seiner mehrjährigen Odyssee jedoch bleiben soll, ist der zu seiner anfänglichen Trans-Mitbewohnerin, deren Therapeutin Arthur schließlich die Augen öffnet – nur damit dieser zurück auf Rügen feststellen wird, dass er auch dort noch nicht zu sich gefunden haben wird und das Leben mit der Suche nach sich selbst weitergeht. Was wohl Mutter dazu sagen würde…?
Wunderbare Sprachwelten
Und in mir ein Ozean besticht durch eine fesselnde Erzählweise, durch konsequent wiederkehrende Bilder und Symbole. Wofür steht das stetig präsente Echium in Arthurs Leben? Und wieso träumt er so oft von dem heimischen Garten? Wieso sind das Meer und generell Wasser so ein intensiver Anziehungspunkt für den jungen Mann? All diese Fragen wird sich der aufmerksame Leser stellen, wenn er sich der Lektüre hingibt.
Ganz besonders gelobt werden muss Stephans Fähigkeit in Bildern und Metaphern zu erzählen. Ein umgekipptes Glas Orangensaft als die „orangefarbenen Tränen sonnengereifter Zitrusfrüchte“ (S. 55) zu paraphrasieren, um nur eines der zahllosen Beispiele zu nennen, mit denen er es schafft, winzige Details mit wenigen Worten so poetisch und eindrücklich zu beschreiben, illustriert das Vermögen des Autors, Szenen vor dem geistigen Auge aufzubauen.
Ebenso spannend sind die vielen Gegensätze, die Stephan es schafft aufzuzeigen und die Arthurs Leben zwischen diesen Polen oszillieren lassen. Der regelmäßige Kirchgang mit seinem Gönner bringt ihn vermeintlich der Religion nahe, die ihm seine Mutter bereits in jungen Jahren versucht hat auszutreiben. Die Natur mit all ihren Kräften wird an vielen Stellen eindrucksvoll geschildert und von Arthur vergöttert. Das hindert ihn nicht daran, einen großen Teil seiner Reise mit der Kunst zu verbringen, selbst artistisch tätig zu sein und sich so menschengemachten und artifiziellen Versuchungen und der Kultur hinzugeben.
Am Ende wird doch alles eins
Es ist daher nicht überraschend, dass Arthur diese Konflikte zwischen Natur und Kultur, zwischen Religion und haifischartigen Gottessubstituten, einen sehr speziellen Weg für sich, seine Karriere, sein Leben und seine Liebe finden lassen. Auch der Dualismus von Leben und Tod wird an vielen Stellen von großer Bedeutung sein und zwar – wie könnte es anders sein – vom Anfang bis zum Ende.
Stichwort Liebe: Auch in seiner Sexualität muss Arthur erst zu sich finden. Die Szene mit der späteren Trans-Mitbewohnerin Fleur, in der sie Arthur Flaschen sammelnd vom S-Bahnhof aufliest, ist bezeichnend dafür: „Hast du was gegen Schwuchteln?“, fragt sie ihn (S. 172). „Nur gegen mich“, ist seine Antwort und steht sinnbildlich für seine nicht abgeschlossene Reise zu sich selbst. Die (Homo-)Sexualität ist ein wichtiger Bestandteil des Buches und auch Arthur soll seine Vorlieben und Triebe Stück für Stück entdecken. Dabei verzichtet Dennis Stephan jedoch in der Regel auf die Detailbeschreibung sexualisierter Szenen. Wer einen Softporno möchte, muss also wo anders suchen. Gleichzeitig werden Homo- und Transsexualität als normale gesellschaftliche Themen vorurteilsfrei aufgegriffen, was die Lektüre auch dem einen oder anderen Hetero durchaus empfehlenswert macht.
Und in mir ein Ozean ist ein wortgewaltiges und wirkungsmächtiges Werk, das sehr eindrücklich von der Suche nach sich selbst erzählt. Es sei somit jedem Heranwachsenden auf der Suche nach sich selbst, aber auch dem einen oder anderen Herangewachsenen empfohlen, der bereits denkt, sich bereits gefunden zu haben. Es gibt nämlich Suchen, die vielleicht niemals abgeschlossen sein werden.
HMS
Eine Leseprobe findet ihr hier.
Dennis Stephan: Und in mir ein Ozean; 1. Auflage, September 2019; broschiert, 304 Seiten; ISBN: 978-3-89656-281-4; Querverlag; 16,00€; eBook: 9,99€
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