Dass der Tatort immer auch eine Art Glücksspiel ist, dürfte den meisten Zuschauer*innen durchaus klar sein: Nicht selten wechseln sich kleine Highlights mit Durchschnittsfilmen und seltener – zumindest in dieser Sonntagabendkrimi-Saison – Totalausfällen ab. Auch innerhalb einzelner Städte kann durchaus nicht unbedingt von Einheitlichkeit gesprochen worden (vielleicht mit Ausnahme der Meret Becker/Mark Waschke-Filme).
Im letzten Jahr waren wir beispielsweise sehr angetan vom zweiten Mainzer Tatort mit Heike Makatsch als Ellen Berlinger und Sebastian Blomberg als Martin Rascher und die Spannung auf den neuen Fall war durchaus mittelgroß. Ebenso war es auch die Enttäuschung, die sich im Lauf der 1206. Gemeinschaftsproduktionsfolge In seinen Augen konstant steigerte bis sie schließlich Indifferenz wich.
Tod durch zu viel Leben?
Als die Best Agerin Bibiana Dubinski (Ulrike Krumbiegel) an einem Insulinschock stirbt, sieht alles nach einem Unfall aus. Berlinger jedoch hat da so ein Gefühl: Irgendwas stimmt hier nicht. Sie verdächtigt die beste Freundin der Toten, Charlotte Mühlen (Michaela May), und deren jungen, vorbestraften Liebhaber Hannes Petzold (Klaus Steinbacher), aus Gier den Unfall inszeniert zu haben.

Die Staatsanwältin Jasmin Winterstein (Abak Safaei-Rad) drängt darauf, den Fall einzustellen, zumal auch die Indizien mehr als dürftig sind. Doch Rascher schafft es, Berlinger und sich ein kleines Zeitfenster zu besorgen, um ihrem Verdacht nachgehen zu können und so beginnen die „Ermittlungen“.
Selbstgerechte Moral
Nun, es wäre müßig, dem Tatort – oder sonstigen TV-Krimis – vorzuwerfen, dass sie in erster Linie unterhalten wollen und dabei natürlich nicht den wahrhaftigen Polizeialltag und die authentische Ermittlungsarbeit aufzeigen. Dennoch darf durchaus erwartet werden, nicht vollkommen frei zu drehen und diverse Grenzüberschreitungen als total in Ordnung zu charakterisieren und darüber hinaus aufgrund einer menschlich schier unerträglichen Vorverurteilung zu agieren.

Das ist beispielsweise bei den Dortmunder Fällen mit Faber und Co. spannend: Der Mann ist primär ein Arschloch und spielt oft nicht fair, doch wird dies von Konsequenzen begleitet. Etwas, das in den Kölner-Sozialhilfe-Tatorten wiederum fehlt: Wenn Ballauf und Schenk einmal loslegen, wird jedes unethische Handeln durch eine überzogene und nicht selten selbstgerechte Moral gerechtfertigt.
Ausklinken zum Selbstschutz
Und da wird’s dann schwierig, denn das hat nichts mehr mit Unterhaltung, sondern mit moralinsaurer Verklärung zu tun, die dazu noch ein sehr spezielles und sehr schwieriges Menschen- und Weltbild vermittelt. Dem ist auch im Tatort: In seinen Augen von Regisseur Tim Trageser so, der Ellen Berlinger nicht nur diverse Grenzen übertreten sieht, sondern sie die Situation bis zum Anschlag eskalieren lässt, wodurch sie unnötig Menschen in Gefahr bringt und durchaus Schuld an diversen Konsequenzen hat.

Zwar ist ihr Bauchgefühl, dass es kein Unfall war, nicht verkehrt – dafür aber jede andere Vermutung, die sie in diesem mit verschiedenen Zeitebenen spielenden Tatort anstellt. Dass Kollege Martin Rascher ihr am Ende die Absolution erteilt, ist dabei der Gipfel der Unerträglichkeit. Oder wäre es, hätten wir uns hier nicht schon längst emotional ausgeklinkt.
Keinen Bock
Das ist auch dringend notwendig, denn nicht nur auf Moral-von-der-Geschicht-Ebene ist der Film ein frustrierendes Ärgernis, sondern auch auf der langatmigen und redundanten Handlungsebene, die Autor Thomas Kirchner mit Dialogen spickt, als hätte er sich gedacht: Wenn schon schlecht, dann richtig. Am Ende schlägt der Film so viele Finten, dass es beinah überrascht, dass nicht einfach Passant #4 aus Szene zwölf der Mörder ist. Wäre auch nicht unglaubwürdiger gewesen.
Das Spiel von Makatsch und Blomberg vermittelt dann auch den Eindruck, als hätten sie sich das alles genau so gedacht und nun keine Lust, diesen Kram noch mit einem auch nur halbwegs guten Schauspiel, dessen beide durchaus fähig sind, zu würdigen. Ulrike Krumbiegel hingegen spielt ihre dezent karikierte Figur durchaus mit Verve und sorgt für manch dringend benötige Auflockerung.

Natürlich freuen wir uns, Michaela May (die von 2001 bis 2009 gemeinsam mit Edgar Selge im Münchener Polizeiruf 110 ermittelte) und Klaus Steinbacher (Das Boot, Oktoberfest 1900, Hannes) zu sehen, die mutig auch die stumpfsinnigsten und klischeelästigsten Satzfetzen wiedergeben und mutig einer manipulierenden und erpresserischen Ermittlerin entgegentreten.
Wer braucht schon einen Rechtsstaat?
Während wir den Film schauten, machte der Rezensent dabei ständig Pause, nicht nur, um nicht prompt einen Hirnschaden davon zu tragen, sondern auch, weil er sich über die völlig selbstverständlich vermittelten Unmöglichkeiten aufregte. Da muss mensch nicht Ronen Steinke heißen, um bei all den massiven Verletzungen des Rechtsstaatsprinzips die Hände vors Gesicht zu schlagen.

So sind es also 90 Minuten Laufzeit, plus unzählige Einlassungen, gedankliche Aufarbeitung und die Stunde, die das Schreiben dieses Text gedauert hat plus die etwa dreißig Minuten, die das Aufbereiten desselben in Anspruch nehmen dürfte, die ich nie zurückbekomme. Sei’s drum – um unsere Leser*innen vor diesem verklärerischen Unsinn zu warnen, ist es das wert.
AS
PS: Glücklicherweise ist dieser Tatort nicht der Film, der am Ende der Krimi-Saison steht: Kommende Woche wird diese durch einen neuen Doreen-Brasch-Polizeiruf beendet – #SpoilerAlert: Der hat es in sich und ist ein nahezu perfekter Film. Wir sagten ja: Glücksspiel und stete Wechsel.

Tatort: In seinen Augen läuft am 26. Juni um 20:15 Uhr im Ersten, um 21:45 Uhr auf one und ist anschließend sechs Monate in der ARD-Mediathek verfügbar.
Tatort: In seinen Augen; Deutschland 2022; Regie: Tim Trageser; Drehbuch: Thomas Kirchner; Musik: Andreas Weidinger; Kamera: Eckard Jansen; Darsteller: Heike Makatsch, Sebastian Blomberg, Michaela May, Klaus Steinbacher, Ulrike Krumbiegel, Abak Safaei-Rad, Jule Böwe, Linus Moog; Laufzeit: ca. 88 Minuten
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