St. Petersburg ist bekannt für seine Weißen Nächte. Für einige Tage im Sommer geht die Sonne kaum unter. Deutlich weiter im Süden, etwa auf der Höhe von Sizilien, liegt Seoul, die Hauptstadt Koreas. Weiße Nächte gibt es hier nicht, auch wenn die durch Reklame erleuchteten Straßen etwas anderes suggerieren mögen.
Was es aber gibt, sind schlaflose Nächte. Sommernächte, in denen Nachtschwärmerinnen und Nachtschwärmer herumirren, in ihrem Mikrokosmos gefangen und mit ihren jeweiligen Problemen, Herausforderungen, aber auch Chancen ringen. Eine solche Person ist Ayami, die Protagonistin im ersten ins Deutsche übertragenen Roman Weiße Nacht von Bae Suah, der bei Suhrkamp erschienen ist. Die Übersetzung stammt von Sebastian Bring.
Eine Nacht in Seoul
Wir lernen Ayami an ihrem letzten Arbeitstag im einzigen Hörtheater von Seoul kennen. Das Theater wird danach geschlossen, Ayami hat noch keinen neuen Job, aber dafür eine bewegte Familiengeschichte. Mit ihrem Chef geht sie nach der letzten Vorstellung in einem Dark Restaurant essen und sie ziehen anschließend gemeinsam durch die nächtliche Stadt.
Am nächsten Morgen, so hat Ayami ihrer schwer kranken Deutschlehrerin Yoni versprochen, soll sie einen Dichter aus Deutschland vom Flughafen abholen – vielleicht ergibt sich hieraus ein neuer Job? Bis dahin jedenfalls irrlichtert Ayami durch die Stadt und zunehmend verschwimmen Realität und Traum oder auch Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft – tragische Unglücke inbegriffen.
Nachts sind alle Eulen grau
Die meisten von uns dürften schon einmal durch die Nacht gestreift sein. Ziellos, planlos, wahllos. Die Nacht verschluckt uns, unsere Gedanken und wir wandeln in der Dunkelheit. Aber am Morgen gibt es neues Licht und vieles, was uns gestern noch belastet hat, ist nun vielleicht vergessen. Gerade die Dunkelheit, die Blindheit, ist ein Motiv, das in Weiße Nacht ähnlich wie in Max Frischs Klassiker Homo faber stetig wiederkehrt. Es dürfte gleichsam kein Zufall sein, dass gerade Sadek Hedayats Klassiker Die blinde Eule eine zentrale Rolle in der Geschichte um Ayami einnimmt.
In der Dunkelheit werden stattdessen unsere weiteren Sinne geschärft. Bae Suah lässt ihre Charaktere deshalb in so viele Situationen geraten, in denen andere Sinne als der Sehsinn gefragt sind: im Dark Restaurant geht es um den Geschmack der Speisen und die Geräusche beim Essen, draußen der Geruch der Straße oder die Geräusche eines herannahenden Busses. Obwohl sich Ayami und die anderen Figuren überwiegend in der Nacht bewegen, sehen wir Leserinnen und Leser doch die Situation, in der sie sich befinden, genau vor uns. Bae Suah schafft es also mit hoher Präzision und sprachlicher Eleganz, Bilder vor unseren geistigen Augen zu erschaffen.
Kunst der Erzählung
Diese Kunst wirkt neben Bae Suahs handwerklicher Feinheit auch auf der inhaltlichen Ebene. Ob es die Kunst im Hörtheater ist, die verheißungsvolle Fotografie in einer Ausstellung oder die vielfach auch nur peripher erwähnte Kunst von Literatur und Dichtung, das Menschengeschaffene und Nicht-Natürliche durchzieht den Roman wie ein roter Faden: Weiße Nacht ist gleichsam eine Hommage an die Kunst wie auch ein kleines Kunstwerk in sich selbst. Auch hier verschwinden die Grenzen und verschwimmen verschiedene Ebenen von Handlung und Darstellung, Zeit und Raum sowie Realität und Traum stetig ineinander.
Bae Suahs kurze Geschichte vereint also hohe Erzählkunst mit einer fesselnden Geschichte um eine junge Frau aus dem demokratischen Korea. Anders als in einem anderen kürzlich erschienenen Roman einer koreanischen Schriftstellerin greift sie weniger gesellschaftliche Probleme auf, sondern erzählt vielmehr eine Geschichte, die jeder und jedem an fast jedem Ort geschehen könnte. Und doch entspinnt sich eine einmalige und kurzweilige Handlung in einer Nacht, in der die Grenzen verschwimmen.
HMS
Eine Leseprobe findet ihr hier.
Bae Suah: Weiße Nacht; Aus dem Koreanischen von Sebastian Bring; August 2021; 159 Seiten; Hardcover mit Schutzumschlag; ISBN: 978-3-518-43017-0; Suhrkamp Verlag; 22,00 €; auch als eBook erhältlich
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