Samantha Harvey beschreibt in dem autobiografischen Essay Das Jahr ohne Schlaf ebenso eindringlich wie beängstigend und trotzdem irgendwie gelassen, was es heißt, nicht mehr schlafen zu können, aber das Warum findet dennoch keine Antwort.
Von Nora Eckert
Gewidmet hat Samantha Harvey, die englische Schriftstellerin und Dozentin für Creative Writing, ihr Buch all jenen, „die nachts wach sind. Und für die, die ich aufgeweckt habe; es tut mir leid“. Als sie daran arbeitete, wurde sie gefragt, woran sie gerade schreibe. Ihre Antwort: „Essay – Nein, keine Essays. Texte halt.“ Was mit „Texte“ so lapidar klingt, hat es fürwahr in sich, denn es geht darin buchstäblich auf Leben und Tod, dabei jede Nacht aufs Neue belagert von Dämonen und konfrontiert mit dem Tod eines Cousins, der sie nicht mehr loslässt. Sein Tod habe alle anderen Tode in ihr heraufbeschworen, wie Harvey das Verhängnis ihrer Schlaflosigkeit umschreibt. „All die künftige Trauer nimmt mir den Atem.“
Ein Jahr lang wird sie sich gegen die Schlaflosigkeit vergeblich wehren, nichts unversucht lassen, jede sinnlose, weil erfolglose Behandlung probieren und gutgemeinte, aber doch nur hilflose Ratschläge entgegennehmen. Sie beschreibt in ihren von Julia Wolf übersetzten und bei Hanser Berlin veröffentlichten Texten am Ende auch, wie die Schlaflosigkeit aus ihren Nächten wieder verschwindet und sich in Nichts auflöst, als wäre sie nicht Dauergast gewesen, ohne ihr Geheimnis wirklich entdeckt zu haben. Was sie allerdings mit den Tiefenbohrungen in ihrer Psyche während ihrer schlaflosen Nächte ins Bewusstsein befördert, das ist beklemmend und als philosophische Höhenflüge über existentielle Grundfragen faszinierend zugleich.
Klar, die Wurzel des Problems liegt im Bedrückt-Sein, in der Sorge um alles. Aber es wird eben nicht durch die Aufforderung gelöst, positiv zu denken. Denn wie ginge das schon allein physisch, wenn man, wie Harvey, nur fünf Stunden in insgesamt drei Nächten geschlafen hat? Positiv denken, als ob das auf Knopfdruck oder per Pille ginge. Letztere gehörte natürlich auch zu ihrem Kampf gegen das nächtliche Wachsein, funktionierte aber nur kurze Zeit, um schließlich die Chemie in die Schlaflosigkeit zu integrieren. Was ist das für eine Macht? Eine absolut feindliche auf jeden Fall, „die nicht möchte, dass es mir gut geht“: „Wenn jemand dich zerstören wollte, wäre Schlafentzug eine gute Methode. Hat sich ja auch längst bewährt.“
Von der Ärztin wird sie wie ein Kind behandelt und mit lauter Maßregelungen abgespeist – Arztbesuche wurden so zu regelrechten Kampfsituationen. Auch dies gehört dazu: „Frauen kriegen so etwas sicher öfter zu hören als Männer – dass sie lernen müssen, sich abzufinden. Ich habe irgendwo gelesen, Ärzte führten die Symptome von Frauen eher auf Stress zurück, während Männer näher untersucht und an Fachärzte überwiesen werden.“
Auch Buddhismus sei keine Lösung, denn der gehe auf die Auslöschung des eigenen Selbst hinaus. „All die Jahre, in denen du versuchst, besser zu werden, nur um dann mit der Auslöschung dieses Selbst belohnt zu werden.“ Trost hingegen empfindet sie allein durch die Anwesenheit anderer Menschen, ihre schiere Gegenwart sei ein „unergründlicher Trost“. Und auch das Schreiben war in jenem schlaflosen Jahr ein Trost: „Schreiben hat mir das Leben gerettet. Im letzten Jahr war mir Schreiben fast so wichtig wie Schlafen.“
Doch der Kampf, den sie führt, ist gegen einen unsichtbaren Feind. Da hilft es auch nicht, sich den Schlaf als eine einfache Funktion des menschlichen Körpers vorzustellen. Er bleibt unerreichbar und doch ist etwas in ihr, was sie weitermachen lässt. „Was in mir besteht immer noch darauf, glücklich zu sein? Woher kommt diese Weigerung, sich geschlagen zu geben?“
Eine Antwort darauf findet Harvey so wenig wie darauf, was sie schlaflos sein lässt, außer dass es da diese nicht enden wollenden sorgenvollen Gedanken gibt, dieses ewige Bedrückt-Sein und die Konfrontation mit dem Tod, der endgültig und ewig ist. Der Essay endet mit einem Kapitel, das vielversprechend mit „Wie man Schlaflosigkeit heilt“ überschrieben ist. Doch Harveys Heilungsvorschlag bleibt so rätselhaft wie der Grund für all die wachen Nächte.
„So heilt man Schlaflosigkeit: Nichts bleibt, wie es ist. Alles geht vorüber, auch die Schlaflosigkeit. Eines Tages, wenn Sie mit ihr fertig sind, wird sie ihren Halt verlieren und von Ihnen abfallen, und ohne noch daran zu denken, dass Ihnen dies einst unmöglich schien, werden Sie jede Nacht in den Schlaf sinken.“
Mehr ist es nicht? Am Ende also nur ein Witz, dem die Pointe fehlt? Als Leserin so mir nichts dir nichts und ohne Auflösung am Wegrand dieses Essays stehengelassen zu werden, lässt mich in der Tat irritiert zurück – und das umso mehr, als Harvey zuvor so viel Kluges mitzuteilen weiß über den Schlaf, der nicht kommt, über die Nacht, die Dunkelheit, die ewig verrinnende, geradezu körperlich erfahrbare Zeit. Spannend auch ihr ethnologischer Ausflug zu einer Volksgruppe im Amazonasgebiet, in deren Sprache es kein Wenn-dann gibt, keine kollektive Erinnerung, die älter als zwei Generationen ist, nichts Transzendentes, und die vor allem ohne endlose, rekursive Gedanken leben, also genau das, was die Autorin am Schlafen hinderte. Also ist die Antwort auf die Frage, warum es Schlaflosigkeit gibt, dass es keine Antwort gibt, sondern sie einfach so geht wie der Schlaf kommt – einfach so eben.
Nora Eckert ist Publizistin, im Vorstand beim Bundesverbandes Trans* e.V. und bei TransInterQueer e. V. und Teil der Queer Media Society.
Eine Leseprobe findet ihr hier.
Samantha Harvey: Das Jahr ohne Schlaf; Oktober 2022; Aus dem Englischen von Julia Wolf; 176 Seiten; Hardcover mit Schutzumschlag; ISBN 978-3-446-27386-3; Hanser Berlin; 23,00 €
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