Lotus ist kein Vergissmeinnicht

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Verdrängen und Vergessen helfen vielen Menschen dabei, Schmerzen und unangenehme Situationen zu ertragen. Was aber bleibt, sind Narben. Auch diese kann man ignorieren, aber sie werden dennoch immer da sein und dienen als Mahnmal früherer Schmerzen, egal ob sie körperlich oder seelisch sind und waren.

Eine Frau, zwei Identitäten und die kommunistische Bodenreform

Der Roman Weiches Begräbnis der chinesischen Autorin Fang Fang behandelt die Thematik des Vergessens und Verdrängens. Bei Hoffmann und Campe ist er Anfang 2021 in der Übersetzung des Sinologen und Gründungsdirektors des Goethe-Instituts Beijing Michael Kahn-Ackermann erschienen. Und völlig zurecht ist das Buch für den Internationalen Literaturpreis für Gegenwartsliteraturen des Hauses der Kulturen der Welt nominiert, der am 30. Juni 2021 vergeben wird.

Fang Fang erzählt auf zwei Ebenen die Geschichte einer Frau, Ding Zitao, bzw. Lu Daiyun. Ding Zitao, wie sie im zweiten Teil ihres Lebens genannt wird, wird zur Zeit der Bodenreform in China (1949 – 1952) von einem Arzt bei Wuhan aus einem Fluss gezogen und kann sich nicht daran erinnern, woher sie kommt oder wer sie ist. Etwas später heiraten sie und bekommen einen Sohn, Qinling. Als der erwachsene Qinling seine alte, mittlerweile verwitwete Mutter Anfang der 2000er-Jahre in ein großes, eigenes Haus führt, gibt sie merkwürdige Äußerungen von sich, darunter die für ihn kryptischen Bezeichnungen „Strohhütte des Ertragens“ und „Halle des dreifachen Wissens“. Am selben Abend verfällt sie in eine Art Wachkoma und durchlebt im Limbus ihr vergangenes Leben als Lu Daiyun.

„Bekämpfung“ von „Großgrundbesitzern“

Weiches Begräbnis ist eine Reise in die Vergangenheit, in die Zeit der Landreform 1949 – 1952 als die Kommunistische Partei Chinas gerade die Macht ergriffen hatte und diese zu konsolidieren vermochte. Dass sie sich dazu von Beginn an und bis heute die Bauern und die ländliche Bevölkerung zunutze machte, haben wir bereits bei Clive Hamilton und Mareike Ohlberg in Die lautlose Eroberung erfahren. Und dass forcierte Enteignungen und (später auch in China durchgeführte) Zwangskollektivierungen von Landbesitzern unter den ersten und zentralen Maßnahmen sozialistischer Regierungen sind, ist beispielsweise aus Diktator werden bekannt.

Die Opfer der Landreform waren zahlreich, auch Daiyuns Familie war darunter. Und weil es so viele waren, waren oft nicht die Zeit und die Kraft für ein anständiges Begräbnis vorhanden. Die Leichen wurden oft ohne Sarg verscharrt – ein weiches Begräbnis. In diese Zeit nimmt uns Fang Fang über Ding Zitao in deren Zwischenstadium mit. Sie gibt uns historische Einblicke in die Zeit der bereits erwähnten Machtkonsolidierung der Kommunistischen Partei und illustriert die gewollte Anarchie und das Unrecht, die im kommunistischen China auch später immer wieder auftauchen sollte.

Daniel Leese hat in seinem Buch Maos langer Schatten beschrieben, wie die Zeit der Kulturrevolution 1968 – 1976 ihre Spuren hinterlassen hatte – darunter auch Verhaltensmuster in der Bevölkerung, denen wir auch in Weiches Begräbnis begegnen: willkürliche Selbstjustiz und das Vorschieben der kommunistischen Ideologie, um persönliche Ziele zu verfolgen. Neben der Aufarbeitung einer barbarischen, gewaltvollen und zugleich vom Regime bewusst vergessenen und verklärten Geschichte illustriert Weiches Begräbnis also die volle Willkür eines totalitären Regimes und seiner Schergen und dessen Auswirkungen bis in die Gegenwart.

Das Vergessen und die Erinnerung

Hier setzt schließlich die zweite der beiden zunehmend ineinandergreifenden Handlungsebenen ein: Qinling, Ding Zitaos Sohn, macht sich auf die Suche nach der Vergangenheit seiner Eltern, vor allem seiner Mutter. Dabei kommt er der Wahrheit und der Vergangenheit erstaunlich nah, obschon der Zweifel immer mit dabei ist. Von seinem Vater hat er alte Aufzeichnungen, einige Freunde und Bekannte können ihm auch behilflich sein. Da aber die Geschichte so grausam und gewaltvoll ist, stellt sich ihm bald die Frage, wie viel er davon wissen will und soll. Und ob es nicht vielleicht besser wäre, manche Dinge nicht noch einmal zu durchleben, ihnen das „weiche Begräbnis“ der Zeit und des Vergessens zu gestatten. Das Vergessenkönnen, Vergessenwollen und Vergessendürfen sind also zentrale Fragen in Weiches Begräbnis.

Vergessen ist ein Recht, auf das man sich berufen können sollte, das einem aber nicht aufoktroyiert werden darf. Das Regime in Beijing versucht bis heute regelmäßig seine Fehler zu verschleiern, ob es Maos „Großer Sprung nach vorne“ ist, das „Tian’Anmen-Massaker“, die Opfer der Bodenreform oder auch der nur eingeschränkte Zugang internationaler Expertinnen und Experten zur Ergründung des Ursprungs des Coronavirus. Wo Vergessen zur Pflicht wird, kann irgendwann keine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit mehr stattfinden und gerade uns Deutschen sollte bewusst sein, wie wichtig eben auch Erinnern ist.

Wie wichtig die Erinnerung ist, zeigt auch der Umgang mit Gedenkstätten und archäologischen Funden. Michael Kerrigan zeigt in seinem Bildband Zauber der Vergänglichkeit die Ruinen verfallener Herrenhäuser. Auch sie bergen jeweils eine Geschichte, derer wir uns erinnern können und oftmals sollten. Wenn diese nicht festgehalten wird, so erleiden auch die Geschichten dieser Gebäude über die Zeit ein weiches Begräbnis. Wäre es nicht fiktiv, das Anwesen der Lu-Familie aus Weiches Begräbnis wäre ein Paradebeispiel hierfür. Und Fang Fang macht mehr als deutlich, wie dieses Anwesen und seine Verwitterung für die vielen vergessenen Schicksale der Opfer der Bodenreform steht; wie sie und ihre Geschichten dem Vergessen anheimgegeben werden, wenn an sie nicht erinnert wird oder werden darf.

Tolle Übersetzung, ausbaufähiges Lektorat

Ein Kommentar noch zur Übersetzung, denn schließlich ist sie ein wesentlicher Gegenstand des hkw-Literaturpreises: Michael Kahn-Ackermanns Übersetzung ist herausragend. Nicht nur, dass der Text gut und anspruchsvoll übertragen wurde und die Sprache auch die zeitlichen Gegebenheiten der späten 1940er- und frühen 1950er-Jahre einschließt. Auch seine inhaltlichen Erläuterungen sind wertvoll für all jene, die mit der jüngeren und älteren chinesischen Kultur und Geschichte nicht so vertraut sind. Erst durch sie ergibt sich für die Leserinnen und Leser an vielen Stellen ein breiteres Verständnis für die doch ganz andere Welt, in der Ding Zitao, Lu Daiyun und die anderen Protagonistinnen und Protagonisten leben.

Was hingegen ein wenig ärgerlich ist, ist, dass es am Ende doch verhältnismäßig viele Fehler ins Buch „geschafft“ haben. Das sind vor allem Buchstabendreher, die aus einem Wort ein völlig anderes machen, die jedoch nicht von einer Autokorrektur erkannt werden. Aus „sie“ wurde an einer Stelle beispielsweise „sei“ und solche Fehler finden sich leider verhältnismäßig oft. Die Übersetzung ist wie gesagt sehr gut gelungen, beim Lektorat hingegen hätte der Verlag auf etwas mehr Sorgfalt achten sollen.

Wir wollen „Weiches Begräbnis“

Trotz allem, Fang Fangs Roman Weiches Begräbnis verknüpft eine traurige und schwierige Epoche der chinesischen Geschichte, die von vielen wohl gezielt vergessen werden möchte und erzählt anschaulich die Geschichte einer Frau mit verschiedenen Leben. Sie stellt die Frage, was vergessen werden darf und soll und wer darüber bestimmen darf, woran in welcher Art und Weise erinnert werden soll.

Uns, die wir in einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft leben, zeigt ihr Werk somit, wie wichtig unsere Grundwerte sind und unter welchen Einschränkungen jene leiden müssen, die nicht erinnern dürfen, die vergessen müssen, weil ihnen Gedanken und Denkweise vorgeschrieben werden. Gerade im Jahr des 100-jährigen Jubiläums der Kommunistischen Partei Chinas und während der Coronakrise und einer zunehmenden gesellschaftlichen Spaltung ist es von Bedeutung, dass an ein so dunkles Kapitel der Geschichte in einem autoritären System erinnert wird.

HMS

Fang Fang: Weiches Begräbnis; Aus dem Chinesen von Michael Kahn-Ackermann; 2. Auflage, April 2021; Hardcover, gebunden mit Schutzumschlag; 448 Seiten; ISBN: 978-3-45501-103-6; Hoffmann und Campe; 26,00 €

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