Lockdown in Tageshäppchen

Am 4. Februar starten in Beijing die Olympischen Winterspiele. Vorab machten einige Anweisungen der Kommunistischen Partei die Runde: lange Quarantäne für die Athletinnen und Athleten, keine Bewegungsfreiheit in der Stadt, Chinesinnen und Chinesen sollten bei Verkehrsunfällen den Opfern lieber nicht helfen und mehrere Millionenstädte befinden sich seit Wochen in Abriegelung. Dahinter steckt unter anderem eine der wohl strengsten Zero-Covid-Strategien weltweit – und das ausgerechnet in dem Land, in dem die Pandemie vor ziemlich genau zwei Jahren ihren Anfang nahm.

Damals erlangte die zentralchinesische Stadt Wuhan in kürzester Zeit weltweite Bekanntheit. Und das Regime in Beijing reagierte damals erst mit Leugnen, dann mit dem ersten harten Lockdown. Wuhan wurde so streng abgeriegelt, wie man es sich kaum vorstellen konnte. Ihre Erfahrungen aus jener Zeit – mehr als zwei Monate durfte kaum jemand die Stadtgrenze passieren – hat die in Wuhan beheimatete Autorin Fang Fang in ihrem Wuhan Diary – Tagebuch aus einer gesperrten Stadt veröffentlicht. Nicht nur die deutschsprachige Übersetzung von Michael Kahn-Ackermann hat es zu einem Bestseller gebracht und wurde bei Hoffmann und Campe veröffentlicht.

Das tägliche Lockdown-Briefing

Fang Fang, eigentlich als Autorin von begeisternden Romanen wie Weiches Begräbnis bekannt, hat ihre persönlichen Eindrücke und Gedanken im Zuge der Absperrung erst in einem Blog und anschließend in diesem Buch zusammengefasst. Wuhan Diary besteht daher aus 60 tageweisen Kapiteln von jeweils vier bis acht Seiten zuzüglich eines kurzen Vorworts und einer abschließenden Einordnung zur Stadt Wuhan selbst.

Sie sammelt darin persönliche Eindrücke und Empfindungen, hält zu Beginn stets das Wetter fest, fasst offizielle Meldungen zusammen und führt aber auch die Ergebnisse eigener Recherchen und Gespräche an. Auch manch externe Quelle oder Erlebnisse von Verwandten und Bekannten finden Eingang in ihr eindrücklich die Lage in Wuhan schilderndes Buch – soweit das eben aus den eigenen vier Wänden mit Telefon- und Internetverbindung nach draußen möglich ist.

Die Stimmung ändert sich

Über den Verlauf des Buchs und somit der Abriegelung Wuhans hinweg lassen sich verschiedene inhaltliche Schwerpunkte erkennen, die auch den meisten hierzulande nicht unbekannt sein dürften. Erst die große Sorge, der Respekt vor dem Virus. Fang Fang und die Menschen in Wuhan wussten nicht, wie mit dem Virus umzugehen sei. Das motivierte die Menschen aber zum Zusammenhalt, zum Befolgen der Regeln, die Beijing erließ. Frei nach dem Motto: „Gemeinsam schaffen wir das, in ein paar Wochen geht das normale Leben weiter.“

Daraus wurde bekanntermaßen nichts, das Virus blieb – bis heute. Und ähnlich wie bei vielen anderen schlug auch Fang Fangs Stimmung um. Enttäuschung, Resignation, Trauer machten sich breit. Und die zunehmende Forderung nach der Übernahme von Verantwortung. Überdies sah sich die Autorin in ihrem Blog der staatlichen Zensur ausgesetzt sowie Anfeindungen von „Linksextremisten“. Auch hierüber, über viele persönliche Diffamierungen, berichtet sie detailliert.

„Nehmen Sie es auch ernst“

Egal, ob es der Anfang der Pandemie war, der Lockdown im vergangenen Winter oder die aktuelle Lage, fast jeder und jede dürfte nachfühlen können, was Fang Fang in ihrem Wuhan Diary beschreibt. Etwas erschreckend ist ihre anfangs fast blinde und vorbehaltlose Unterstützung aller radikalen Einschränkungen durch das Regime in Beijing. Wenn mensch allerdings bedenkt, dass auch wir dem Appell der Bundeskanzlerin vom März 2020 („Es ist ernst – nehmen Sie es auch ernst!“) noch überwiegend sehr diszipliniert folgten, relativiert sich dieser Eindruck allerdings auch wieder ein wenig.

Was sich eher weniger relativiert, sind die Eindrücke, die sich zur Zensur von Fang Fangs Texten und den Anfeindungen der „Linksextremisten“ festhalten lassen. Dass ihr Blog regelmäßig gesperrt wurde und sie umdisponieren musste, um Ihre Tagebucheinträge doch veröffentlichen zu können, und den von ihr beschriebenen Attacken ausgesetzt war, zeigt einmal mehr, wie schlecht es doch um die Meinungsfreiheit in China bestellt ist.

Der Wert offener Berichterstattung

Welchen Grund sollte jemand haben, den Bericht einer Frau im Lockdown als Angriff zu werten? Wieso sollte jemand sie dafür persönlich angreifen? Sie schildert doch nur die tatsächliche Lage, ruft nicht zur Agitation oder zum Aufstand auf. Wenn aber schon nicht mehr offen und ehrlich berichtet werden darf, wie die Lage „an der Front“ ist, dann haben von vornherein alle verloren.

Im Gegenteil, gerade in Krisenzeiten ist es doch von zentraler Bedeutung, den Menschen mitzuteilen, was Sache ist. Genau dann brauchen wir doch die unabhängigen Berichte von vor Ort, um aus einer so misslichen Lage wie Corona schnellstmöglich herauszukommen oder uns bestmöglich zu wappnen. Stattdessen gab es offenbar Zensur und Verfolgung und als Leserin oder Leser fragt man sich doch, ob die Autorin selbst nicht sieht, wie sehr das lenkende Regime aus Beijing das Leben eigentlich einschränkt. Oder ob sie es eigentlich doch weiß und sich einfach nur damit arrangiert hat.

Wichtig und dennoch anstrengend

So wichtig Fang Fangs Lektüre auch ist, so anstrengend ist sie bisweilen. Die Form als Tagebuch mit vier bis acht Seiten pro Eintrag ist einerseits sehr charmant, denn häufig greift sie die Vorkommnisse der Vortage auf oder erzählt kleine Anekdoten aus dem Alltag, wie sie viele von uns aus dem Lockdown kennen dürften. Andererseits wiederholen sich manche Punkte eben, einiges wirkt ein wenig redundant. Aber so war eben für viele Menschen eben der Lockdown auch hierzulande und somit sollten wir uns sehr gut in die Lage der Autorin hineinversetzen können.

Und doch, das Thema ist eben keines, das einem wirklich das Herz aufgehen lässt. In der eigenen Wohnung quasi eingesperrt zu sein, kaum Kontakt zu Freunden und Verwandten zu haben, vielleicht sogar um sie in Sorge zu sein – das ist auf keinen Fall eine Lektüre, die die Stimmung hebt. Aber sie beschönigt eben auch nicht (zumindest nicht über das hinaus, was bereits beschrieben wurde). Athletinnen und Athleten im Olympischen Dorf sollten vielleicht eher zu einer anderen Lektüre greifen, um sich mental nicht zu weit hinunterziehen zu lassen.

Aber für alle anderen gilt: Fang Fangs Wuhan Diary ist keine leichte Kost, setzt sich aber auf bedrückende Weise mit den ersten Tagen der Pandemie aus deren Epizentrum auseinander. Es ist ein nüchterner und dennoch emotionaler Bericht aus dem Auge des Drachen, der uns viel über das moderne China, seine Repression, Zensur und Meinungsfreiheit lernen lässt. Wenn wir wissen wollen, wo wir unsere Sportlerinnen und Sportler in den kommenden Wochen antreten lassen, in welcher Gesellschaft deutsche Konzerne Milliarden erwirtschaften: Dort ist es und wir sollten ganz genau hinsehen, auch wenn es schmerzt! Denn hier wegzusehen, lässt die Probleme nicht verschwinden.

HMS

Fang Fang: Wuhan Diary. Tagebuch aus einer gesperrten Stadt; Aus dem Chinesischen von Michael Kahn-Ackermann; August 2021; Taschenbuch; 352 Seiten; ISBN: 978-3-455-01040-4; Hoffmann und Campe; 14,00 €; auch als eBook erhältlich

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