Wir wollten es doch beide – oder?

Wann ist ein Mann ein Mann fragte Herbert Grönemeyer in den 1980ern. Und wir fragen heute: Wann ist eine Vergewaltigung eine Vergewaltigung? Die Grenzen zwischen einvernehmlichem Sex und einer Vergewaltigung sind nicht immer so klar, wie in Antje Rávik Strubels mit dem Deutschen Buchpreis 2021 prämierten Roman Blaue Frau, aber gleichzeitig ist nicht jeder gewaltvolle Akt gleich eine Vergewaltigung, wie in Dennis Coopers Buch Die Schlampen ersichtlich ist.

Tougher Jahresauftakt für Lannert (Richy Müller) und Boots (Felix Klare) // © SWR/Benoît Linder

Wichtig ist vor allem die Perspektive der Person, für die der Geschlechtsverkehr nicht freiwillig ist. Und davon handelt direkt zum Jahresauftakt der Stuttgarter Tatort: Videobeweis mit den Kommissaren Thorsten Lannert (Richy Müller) und Sebastian Bootz (Felix Klare, der im Anschluss in Schneller als die Angst zu sehen ist, wo er ironischerweise einen Sexualstraftäter spielt).

Böses Ende der Weihnachtsfeier

Die Weihnachtsfeier einer Versicherung ist der Ausgangspunkt oder vielmehr der verkaterte Tag danach. Für Idris Demir (Ulas Kilic) wird es allerdings keinen Kater mehr geben, denn er liegt zwischen Glasscherben tot im Foyer. Er ist oder wurde von einem der oberen Stockwerke in die Tiefe gesprungen. Eigentlich hätte es für ihn doch nach oben gehen sollen. Er war gemeinsam mit seiner Kollegin Kim Tramell (Ursina Lardi) Anwärter für eine Beförderung, die ihr Chef Oliver Jansen (Oliver Wnuk, der erst kurz vor Weihnachten das Ende der Beziehung mit Yvonne Catterfeld bekanntgeben musste) demnächst aussprechen sollte.

Kim Tramell (Ursina Lardi) ist nach der Weihnachtsfeier noch mit Oliver Jansen (Oliver Wnuk) in sein Büro gegangen. Ein letzter Drink. Und dann? // © SWR/Benoît Linder

Doch nach der Weihnachtsfeier kamen sich Tramell und Jansen weit näher, als das in dieser Situation adäquat scheint. Demir hat dies auf Film festgehalten – ein Video, das verschiedene Deutungen und somit auch Motive zulässt: Jansen überredet beziehungsweise zwingt seine Mitarbeiterin zum Sex, damit sie die Beförderung erhält oder doch: Tramell „schläft sich hoch“ und bootet Demir auf diese Weise aus? Eine klassische Situation, in der wirklich niemand etwas gewonnen hat.

Wer wollte was?

Lannert und Bootz müssen sich nun durch ein Dickicht aus Aussagen, Indizien und manch gar nicht so unbedeutenden Hundehaufen arbeiten. Wer lügt? Wie ist der Abend wirklich abgelaufen? Welche Aktion führte zu welcher Reaktion? Und wer sandte wann welche Zeichen an den/die andere/n aus? Klassische Detektivarbeit also, die die Anspannung bei den Zuschauerinnen und Zuschauern ähnlich hoch hält wie jene in Lannerts Rücken.

Oliver Jansen versucht, souverän zu bleiben, aber der Vergewaltigung und eines Tötungsdelikts beschuldigt zu werden, bringt ihn außer Fassung // © SWR/Benoît Linder

Die eigentlich spannende Frage ist aber die nach der Einvernehmlichkeit des Geschlechtsverkehrs. Dass Tramell und Jansen sich näherkamen, ist durch das Video bewiesen (und auch wir Zuschauende sehen im Vorfeld eine Entwicklung). Aber wer wollte was (nicht)? Jansen behauptet – in fast machohafter Schablone – dass der Sex für beide einvernehmlich gewesen sei, denn wie könne es anders sein? Tramell wiederum hat zwar nicht widersprochen, jedoch zumindest gezögert, vermutlich nicht explizit ihr Einverständnis gegeben.

Wann ist Sex eine Vergewaltigung?

Ist es also eine Vergewaltigung, selbst wenn eine Person, nicht klar und offen „nein“ sagt? Welche Rolle spielt die im Raum stehende Beförderung? Ist Tramell denn – trotz guter Arbeitsleistung – nicht dennoch aus dem Rennen um die Beförderung, wenn sie die Avancen ihres zu Hause an sexueller Zuneigung unterversorgten Chefs zurückweist? Ist sie also mittelbar doch gezwungen, mit ihrem Chef zu schlafen? Oder ist sie am Ende doch die „Schlampe“, die die Situation zwar nicht heraufbeschworen hat, aber dennoch für sich nutzt? Denn sollte sie die Beförderung nicht bekommen, könnte sie immer noch ihren Chef mit dem Beischlaf erpressen.

Untypisch für sie hat Kim Tramell (Ursina Lardi) ihre Exfreundin Sammy (Sarah Masuch, Lindenstraße) kontaktiert, weil sie Unterstützung braucht // © SWR/Benoît Linder

All dies sind Fragen, mit denen sich Lannert und Bootz bei ihren Ermittlungen konfrontiert sehen. Und während die Antwort darauf nicht immer leicht fällt, zeichnen sich das Ermittlerduo sowie das Team um Regisseur und Drehbuchautor Rudi Gaul und die für das Buch mitverantwortliche Katharina Adler dadurch aus, dass sie diese Fragen fein heraus- und im Lauf des Falls weiter bearbeiten. Dass Lannert und Bootz dabei erst einmal unterschiedliche Perspektiven vertreten, spiegelt sehr gut wider, wie unterschiedlich doch die Wahrnehmungen dieser Problematik noch 2022 in unserer Gesellschaft sind. Es sorgt auch für eine der Problematik angemessene Ambivalenz – sind sich beide doch sicher, die Situation jeweils richtig erfasst zu haben. 

Der Tatort: Videobeweis ist also ein gelungener Auftakt in das Jahr, denn er bietet Spannung und behandelt gleich zu Beginn eine Frage der sexuellen Selbstbestimmung, die in den letzten Jahren immer noch nicht die Aufmerksamkeit gefunden hat, die sie verdient. Auch wenn es für den verkaterten Neujahrsabend vielleicht etwas schwere Kost sein mag, hier einzuschalten lohnt sich und dürfte vielen Zuschauerinnen und Zuschauern einen wichtigen Denkimpuls fürs neue Jahr geben.Im „Neujahrstatort: Videobeweis“ müssen sich die Stuttgarter Kommissare Lannert und Bootz mit der Frage beschäftigen, wann Sex wirklich einvernehmlich ist. Für den Neujahrsabend vermutlich nichts für jedermann/-frau, aber dennoch brisant, spannend und mitreißend.

HMS

PS: Übrigens mal ein Fall, bei dem es spannend wäre, in einem weiteren Film die Gerichtsverhandlung zu sehen.

Tatort: Videobeweis läuft am 1. Januar 2022 um 20:15 Uhr im Ersten, um 21:55 Uhr auf one und ist anschließend sechs Monate in der ARD-Mediathek verfügbar.

Tatort: Videobeweis; Deutschland, 2021; Buch: Rudi Gaul, Katharina Adler; Regie: Rudi Gaul; Kamera: Stefan Sommer; Musik: Verena Marisa; Darstellende: Richy Müller, Felix Klare, Ursina Lardi, Oliver Wnuk, Karoline Bär, Sarah Masuch, Jürgen Hartmann, Amelie Herres, Ulas Kilic, Ruby M. Lichtenberg, Lisa Wildmann; Laufzeit: ca. 89 Minuten

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