Wenn der Schein und die Indizien trügen

Da wachst du morgens auf, dein Kopf auf einem blutigen Kissen, du selber auch blutverschmiert. Neben dir dein toter, brutal abgestochener Freund. Du stolperst die Treppe deines Lagerapartments runter und wirst wenig später in Handschellen abgeführt. Denn offensichtlich hast du ja wohl deinen Freund ermordet. Stichwort: Beziehungstat.

„Wie ein Tier“

Danach sieht es im heutigen Tatort: Was ihr nicht seht zuerst ganz klar für Oberkommissarin Karin Gorniak (Karin Hanczewski) sowie auch Chef Peter Michael Schnabel (Martin Brambach) und den neuen Staatsanwalt Jakob Klasen (Timur Isik) aus. Nur Oberkommissarin Leonie Winkler (Cornelia Gröschel) zweifelt. Sie kennt die Tatverdächtige Sarah Monet (krass stark: Deniz Orta) gut, war sie doch einmal mit Leonies Bruder liiert. Und diese ist sich sicher: Sarah ist keine Mörderin.

David Konradt (Frederik Bechtle) hatte kurz vor seinem Tod Geschlechtsverkehr – Dr. Jonathan Himpe (Ron Helbig) unterrichtet Kommissarin Karin Gorniak (Karin Hanczewski) // © MDR/MadeFor/Hardy Spitz

Doch sprechen alle Indizien gegen sie: Es gab keinen Einbruch, Sarah war am Vorabend feiern, hatte getrunken und womöglich Drogen genommen, zudem schien ihr toter Partner Daniel (Frederik Bechtle) eine Affäre gehabt zu haben. Eben dieser hatte Sarah, wie sich im Laufe der Ermittlungen herausstellt, schon einmal eine Flasche an den Kopf geworfen. Dass sie im Krankenhaus während einer Untersuchung die Ärztin Sander (Cristin König) „wie ein Tier“ attackiert, hilft ihr ebensowenig.

Andere Wege gehen

Schnabel, der Leonie Winkler wegen ihrer persönlichen Verstrickung prompt vom Fall abzieht, ist sich darüber hinaus sicher, dass Monet ihre Erinnerungslücken nur vorspielt und versucht die Ermittelnden zu manipulieren. Dafür wachsen nun bei Gorniak die Zweifel. Zu echt scheinen ihr die Aussetzer, zu groß manch ein Widerspruch. Als sich herausstellt, dass der Verdächtigen Sarah Monet K.o.-Tropfen verabreicht wurden, gehen die Ermittlungen in eine neue Richtung…

Staatsanwalt Jakob Klasen (Timur Isik) möchte von Kommissariatsleiter Peter Michael Schnabel (Martin Brambach) und den Kommissarinnen die Ermittlungsergebnisse hören // © MDR/MadeFor

…und diese Richtung ist so düster wie leider notwendig. Scheint es doch so, als ob das Thema von Vergewaltigung nach Verabreichung von K.o.-Tropfen im fiktionalen Raum noch kaum stattfindet. Und wenn, dann zumeist nur als Beiwerk in einem anders gelagerten Fall oder einem, der sich auf Täter fokussiert. Dieser von Lena Stahl, Peter Dommaschk und Ralf Leuther geschriebene und von Stahl auch inszenierte Tatort aus Dresden geht da andere Wege.

Seltene Perspektiven

Erzählt wird Was ihr nicht seht aus der weiblichen Perspektive. Sowohl der der Opfer, es stellt sich heraus, dass Sarah Opfer eines Stalkers und Serienvergewaltigers wurde, als auch der der Ermittlerinnen. Insofern spielt es für einen längeren Zeitraum nur bedingt eine Rolle, wer der Täter eigentlich genau ist. Viel wichtiger ist der Umgang der Frauen mit ihrem Trauma, der Umgang der Ermittlerinnen mit den Vergewaltigten.

Karin Gorniak (re, Karin Hanczewski) versichert ihrer Kollegin Leonie Winkler (li, Cornelia Gröschel) dass sie den Täter finden werden. // © MDR/MadeFor

Natürlich treibt die Suche nach dem Mann, der die Frauen äußerlich nicht verletzt, dafür in ihrem Inneren umso mehr Spuren hinterlässt, den Film voran und doch nimmt die Geschichte Formen an, die wir so im Tatort nicht allzu oft zu sehen bekommen. Manches Mal vielleicht vermengt, wenn Opfer und Täter sich überschneiden mögen, wie beispielsweise im sehr sehenswerten Stuttgarter Tatort: Videobeweis. Dass das Dresdner Team erzählerisch gern neue und nicht selten mutige Wege geht, ist den geneigten Zuschauer*innen bekannt. Insofern ist es nur folgerichtig, wenn Lena Stahl diesen „als ideales Format, um vor allem die katastrophalen seelischen Konsequenzen begreifbar zu machen“, beschreibt.

Kein Opfer, sondern Kämpfer*innen

Somit ist dieser Sonntagskrimi auch harter Tobak. Insbesondere eine sehr authentisch gespielte Szene, in der eine Frau wiedergibt, was ihr geschehen zu sein scheint und wie sie damit zu leben hat, ist intensiv und schwer verdaulich. Wie auch manch eine Täter-Opfer-Begegnung. Apropos: Nun schreibe ich hier so oft Opfer, möchte aber zwei Dinge festgestellt wissen:

Sarah Monet (Deniz Orta) besucht noch einmal den Club aus der Tatnacht, in der Hoffnung sich an etwas zu erinnern // © MDR/MadeFor/Marcus Glahn

Erstens ist der Tatort: Was ihr nicht seht kein Opfer(rollen)film, kein betuliches „Das-Wird-Schon-Wieder-“Spiel.

Zweitens: Menschen, die Missbrauch, Vergewaltigung und/oder andere Attacken er- und überleben – ob mit oder ohne K.o.-Tropfen – sind keine Opfer, sondern Überlebende. Sind Kämpfer*innen. Manches Mal spricht mensch ja aus Erfahrung.

Subtiles Grauen und Mahnung zur Vorsicht

Das Thema ist also schwer, die Herangehensweise eine eher neue. Erst nach und nach entblättern sich die Ausmaße des Falls, die wahren Hintergründe. Zuerst muss Sarah noch in die Mühlen der blinden Justiz geraten und lange als traumatisierte Verdächtige ausharren. Das mag, nun mal mit Blick auf den Unterhaltungswert, manch ein*e Zuschauer*in zuerst ein wenig träge vorkommen. Denn so schwer das Thema, so schwer auch die Schritte, die dieser Tatort macht. Doch lohnt es sich der getragenen Handlung zu folgen, denn wie nicht selten in Dresden spielt sich vieles in der zweiten Hälfte aus.

Kommissariatsleiter Peter Michael Schnabel und Kommissarin Karin Gorniak besprechen sich zum Verhör der Tatverdächtigen Sarah Monet // © MDR/MadeFor

Nicht zuletzt auch, weil neben Hanczewski, Gröschel und Brambach vor allem Deniz Orta eine grandiose Leistung abliefert wie auch Zoë Valks in ihrem Kurzauftritt. Ebenso sind die Bilder, die Kaspar Kaven uns hier gibt, teilweise fantastisch – zurecht gab es eine Nominierung für den Deutschen Kamerapreis. Alles an diesem Tatort ist eindringlich, ohne dass er „THRILLERDRAMA!“ zu schreien braucht. Schmerz und Grauen sind hier subtil und gerade deswegen umso intensiver.

Ein wichtiger, relevanter Film, der ein Thema in den Fokus rückt, dass gemessen daran, wie sehr es im Leben von Frauen (auch Männern, gerade in der schwulen Szene gab und gibt es da durchaus einige K.o.-Tropfen-Vorfälle) eine Rolle spielt, erstaunlich wenig im fiktionalen Raum präsent ist. Dass der Tatort: Was ihr nicht seht nun stilistisch hervorragend darauf aufmerksam macht und womöglich auch manche Menschen zu mehr Vorsicht ermahnen mag, ist gut und richtig.

AS

PS: Lena Stahl im Interview zuzm Film: „Es ist grauenhaft, was diesen Frauen widerfährt, wie viele dieser Fälle es gibt und wie selten es zu einer Verurteilung der Täter kommt, da die Strafverfolgung extrem schwierig ist. Was mich besonders getroffen hat, ist der Zusammenhang, dass die Opfer quasi nicht anwesend sind bei der Tat, die an ihnen verbrochen wird. Du kannst dich nicht wehren, du kannst danach nicht Zeugin sein, erinnerst dich vielleicht tatsächlich an nichts. Aber es gibt eine körperliche Erinnerung bei den Frauen, schwere Traumata, die bis hin zur Suizidalität führen können.“

PPS: Die Co-Autoren Peter Dommaschk und Ralf Leuther zeichnen übrigens für den sehr starken, ebenfalls düsteren Polizeiruf 110: Abgrund verantwortlich.

PPPS: Schnabel zieht übrigens regelmäßig eine seiner Ermittlerinnen von Fällen ab. Oft wegen Befangenheit, persönlicher Verbindungen, etc. Hätten Gorniak und Winkler dann eigentlich nach ihrem ihnen freundschaftlich verbundenen Chef suchen dürfen?

David Konradt (Frederik Bechtle) wurde mit mehreren Messerstichen getötet – Dr. Jonathan Himpe (Ron Helbig) und die Kommissarinnen Karin Gorniak (Karin Hanczewski) und Leonie Winkler (Cornelia Gröschel) begutachten den Tatort, Winkler kennt das Opfer // © MDR/MadeFor/Hardy Spitz

Tatort: Was ihr nicht seht läuft am 5. November 2023 um 20:15 Uhr im Ersten, um 21:45 Uhr auf one und ist anschließend für ein Jahr in der ARD-Mediathek verfügbar.

Tatort: Was ihr nicht seht; Deutschland 2023; Buch: Lena Stahl, Peter Dommaschk, Ralf Leuther; Regie: Lena Stahl; Kamera: Kaspar Kaven; Musik: Sebastian Pille, Florian Kreier, Cico Beck; Darsteller*innen: Karin Hanczewski, Cornelia Gröschel, Martin Brambach, Deniz Orta, Yassin Trabelsi, Ron Helbig, Timur Isik, Felix Vogel, Cristin König, Muriel Wimmer, Zoë Valks, Tatiana Nekrasov, Leopold Hornung; Eine Produktion der MadeFor im Auftrag des MDR für die ARD.

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