Aufgetaucht

In dem beeindruckenden und auch nach mehrmaligen Schauen noch immer neue Interpretationsräume öffnenden Film Magnolia von Paul Thomas Anderson heißt es an einer Stelle: „Wir haben mit der Vergangenheit abgeschlossen, aber die Vergangenheit nicht mit uns.“ Dieser Satz könnte auch das Motto des morgigen Stuttgarter Tatorts sein, der, unter dem so vielsagenden wie treffenden Titel Vergebung tief in die Vergangenheit des doch scheinbar unerschütterlichen Gerichtsmediziners Daniel Vogt (Jürgen Hartmann) eintaucht.

Typveränderung

War Vogt im eher heiteren Ausflug der Kommissare Sebastian Bootz (Felix Klare) und Thorsten Lannert (Richy Müller) Die Nacht der Kommissare noch der wie so oft etwas brägelnde aber doch helfende Mann der Rechtsmedizin, wie die Zuschauer*innen ihn seit geraumer Zeit kennen, so ist er in diesem mysteriös-dramatischen Krimi ein ganz anderer. Und dies aus gutem Grund…

Das alte Haus der Vogts weckt in Sandra Döbele (Ulrike C. Tscharre) und Daniel Vogt (Jürgen Hartmann) Erinnerungen an gute Momente ihrer Kindheit // © SWR/Benoît Linder

Am Neckar wird die Leiche des schwer kranken und eindeutig ertrunkenen Matthias Döbele (Volker Muthmann) angeschwemmt. Dennoch ist Fremdeinwirkung nicht auszuschließen, darauf weisen diverse Merkmale am Körper des Toten hin. So nimmt unser Stuttgarter Traum-Duo Lannert und Bootz die Ermittlungen auf. Sie befragen die Ehefrau Sandra Döbele (Ulrike C. Tscharre, gefühlt gerade in jedem 3. Tatort – keine Beschwerde, nur eine Feststellung, immer gern), den Sohn Thomas (Tim Bülow). Ermitteln in einem Handwerksbetrieb in einem Dorf nahe Stuttgart, ja schauen sich das Leben des Verstorbenen an.

Sebastian Bootz (Felix Klare) und Thorsten Lannert (Richy Müller) bei Ermittlungen in einem Fall, in dem sie einen ihrer Kollegen verdächtigen müssen // © SWR/Patricia Neligan

So recht vorankommen wollen sie dabei jedoch nicht. Was nicht zuletzt daran liegt, dass Dr. Daniel Vogt, der schon am Leichenfundort stiller war als gewohnt, ihnen manch eine Erkenntnis, so wie unter anderem die wesentliche Information, dass der Tote seinen alten Jugendfreund Vogt kurz vor seinem Tod kontaktiert hatte, vorenthält. Vogt scheint fahrig und die Kommissare beginnen an ihm zu zweifeln – erst recht, als Vogt sich davonmacht und auf eigene Faust in seinem Heimatdorf nachzuforschen beginnt.

Zeitverschiebung

Der Tatort: Vergebung, der auf einer Idee von Jürgen Hartmann selbst beruht, hat in der Tat alles, was mensch sich von einem soliden Krimidrama erhoffen kann: Einen bunten Strauß an charismatischen Figuren, reichlich Rätsel, einen eindringlichen Blick in die Vergangenheit, solide Spannung und eine Auflösung, die zwar nicht aus dem Nichts kommt, aber doch nachzuwirken vermag.

Die drei Freunde Mathias (Xari Wimbauer), Daniel (Immanuel Krehl) und Jonas (Jakob Rottmeier) auf dem Steg am See, ihrem Lieblingstreffpunkt // © SWR/Patricia Neligan

Die Vergangenheit ist hier konkret die Zeit, als Vogt, Döbele, dessen spätere Frau und ein Junge namens Jonas Lentowski (Jakob Rottmaier) um die 14 Jahre alt waren. Zu der Zeit sind komplexe Dynamiken in der Freundesgruppe am Werk (Hey, Pubertät!) und beim jungen Daniel Vogt (Immanuel Krehl) und Matthias Döbele (Xari Wimbauer) lässt sich von mehr als nur Anziehung sprechen. Aber auch gegenseitig? Ein Brief, der auch in die Gegenwart wirkt, mag Licht ins Dunkel eines friedlichen Sees bringen.

Spannungsverhältnis

Die Spannung, die dieser von Katharina Adler und Rudi Gaul geschriebene Tatort, den Gaul auch inszenierte (wie auch den letzten, sehr süffisanten Bayern-Tatort: Königinnen) mehr und mehr aufbaut, kommt nicht nur durch die Frage, was dem Döbele zugestoßen sei. Nein, sie kommt auch daher, zu ergründen, was vor circa vierzig Jahren geschehen ist. Wie d‘Sandra beim Matthias gelandet isch. Wie diverse Jugendlieben uns nie loslassen. Wie Schweigen schreien kann. Und natürlich, welche Geheimnisse der See birgt.

Die Wiederbegegnung zwischen Hans Letkowski (Paul Faßnacht) und Daniel Vogt ist schmerzlich für beide // © SWR/Christian Koch

Für so einen beziehungsreichen Fall sind Adler und Gaul wohl genau das richtige Autorengespann. Schon mit ihrem letzten gemeinsamen Tatort aus Stuttgart, Videobeweis, bewiesen sie vor bald zwei Jahren, dass sie scheinbar Unauflösliches gekonnt zu entwickeln und anschließend zu entflechten verstehen. Dabei immer die Waage zwischen Spannung und Sensibilität, Unterhaltung und Anspruch haltend. Kann auch nicht jede*r.

Auffassungsgabe

Dass die Leistungen aller Schauspielenden sitzen, unterstützt das recht anspruchsvolle Buch, die mal sommerlich frischen, dann wieder düster wabernden Bilder Stefan Sommers verhelfen dem Tatort: Vergebung zur richtigen Bildsprache, die wiederum durch die stimmungsvolle, zurückhaltende Musik von Verena Marisa unterstützt wird (übrigens auch alle an Videobeweis beteiligt).

Ein gepeinigter Daniel Vogt (Jürgen Hartmann) // © SWR/Benoît Linder

Anschauen lohnt sich also – nicht nur der nicht-heteronormativen Töne wegen –, wenn auch ein wenig Konzentration und Geduld gefordert sind. Dass allerdings macht doch so manch wirklich gute Unterhaltung erst aus.

AS

v. li.: Felix Klare, Jürgen Hartmann, Richy Müller // © SWR/Christian Koch

Tatort: Vergebung läuft am 19. November 2023 um 20:15 Uhr im Ersten, um 21:45 Uhr auf one und ist anschließend für sechs Monate in der ARD-Mediathek verfügbar.

Tatort: Vergebung; Deutschland 2023; Buch: Katharina Adler, Rudi Gaul; Regie: Rudi Gaul; Bildgestaltung: Stefan Sommer; Musik: Verena Marisa; Darsteller*innen: Felix Klare, Richy Müller, Jürgen Hartmann, Immanuel Krehl, Paul Faßnacht, Ulrike C. Tscharre, Volker Muthmann, Jakob Rottmaier, Elena Georgotas, Xari Wimbauer, Manolo Bertling, Mina Özlem Sagdic

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