In der Schlinge

Es gibt gerade wahrlich schönere Reiseziele als Kiew, Charkiw oder Cherson. Ein paar AfD-Abgeordnete hielt das kürzlich allerdings nicht davon ab, sich vom Kreml eine Reise in die Ostukraine organisieren zu lassen. Erst auf Druck der Bundespartei brachen sie im September diese Reise ab. Auf der Krim hingegen gab es in den vergangenen Jahren regelmäßigen Besuch der AfD.

Mehr Mut?

Wollen wir uns aber nicht so sehr mit den Rechtsauslegern unserer Demokratie befassen, sondern mit jenen, die in deren Zentrum stehen: beispielsweise Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Bei seinem ersten Amtsantritt nämlich rief er noch schallend ins Plenum des Deutschen Bundestages, dass es mehr Mut in unserer Gesellschaft bedürfe. Das war damals – 2017 – eher gegen die AfD, den rechten Populismus und allgemein für den gesellschaftlichen Zusammenhalt gedacht. Das gilt aber selbstverständlich auch für seine gesamte Amtsführung.

Gerade diesen Mut lässt Steinmeier nämlich dieser Tage vermissen. Als zweimaliger früherer Außenminister weiß er um den Wert der Diplomatie und der Bilder, hat er der Ukraine 2014 federführend zu einer Atempause namens „Minsk II“ verholfen. Heute vielfach geächtet, war dieser kalte Frieden damals aber eine diplomatisch herausragende Leistung und brachte Putins Maschinerie an der Grenze der Krim und des Donbass zum Halten.

Mehr Unmut

Wie wir jeden Tag den Nachrichten entnehmen können, steht die Ukraine wieder unter Beschuss. Im Frühjahr war ganz Deutschland pikiert, dass Steinmeier seitens der Ukraine ausgeladen wurde – in der Tat ein kleiner diplomatischer Affront, aber aus der Sicht eines Landes, das nicht nur im übertragenen Sinn unter Beschuss stand und steht, mehr als nachvollziehbar. Dass dafür „Minsk II“und somit mittelbar Steinmeier verantwortlich gemacht wurde verdreht zwar die Tatsachen ein wenig – siehe oben – aber auch da sollten wir etwas nachsichtig sein. Immerhin zerbombt Putin gerade nicht unser Stromnetz.

Dass nun aber Steinmeier letzte Woche seinen nächsten Besuch abgesagt hat, weil die Sicherheitslage zu prekär sei, ist menschlich verständlich – wer reist schon gerne freiwillig ins Krisengebiet – aber aus politischer und diplomatischer Sicht nun ein ähnlich großer Affront. Der Mann, der hierzulande für „mehr Mut“ geworben hat, traut sich nicht, der Ukraine seine Solidarität zu zeigen? Während es andere Staats- und Regierungschefs wie der Schweizer Bundespräsident übrigens durchaus tun.

Ermutigung

Der Mann, der seiner Frau einst eine Niere spendete, dafür zurecht sehr viele Sympathien bekam, ist sich zu schade, das Risiko einzugehen, einem Verbündeten seine Solidarität im Namen des deutschen Volkes durch einen Besuch zu bekunden? Der Mann, der nach seiner Wiederwahl nur zwei Wochen vor Kriegsbeginn im Februar dem russischen Aggressor zubrüllte: „Lösen Sie die Schlinge um den Hals der Ukraine“ legt sich selbst eine Schlinge um sein Bein und kettet sich in Bellevue fest? Der Mann, der für den Putin-Intimus Gerhard Schröder lange Jahre die Regierungsarbeit organisierte.

Wäre es nicht so traurig und würden nicht so viele Menschen unter diesem Krieg leiden, diese Ironie der Ereignisse und die von Steinmeier in blanker Bigotterie nicht eingehaltenen eigenen Ansprüche wären ja fast schon witzig. Aber nein, stattdessen sitzt da scheinbar ein Mann im warmen Schloss Bellevue, der vielleicht ein wenig ratlos auf seine Optionen blickt. Dabei liegt die Antwort auf der Hand: Mehr Mut!

HMS

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