Pünktlich zum Welttag des Buches am heutigen Dienstag wurden die acht in diesem Jahr für den Deutschen Sachbuchpreis nominierten Titel und Autor*innen bekanntgegeben. Die sechsköpfige Jury – Sibylle Anderl (DIE ZEIT), Julika Griem (Kulturwissenschaftliches Institut Essen), Michael Hagner (ETH Zürich), Michael Lemling (Buchhandlung Lehmkuhl), Patricia Rahemipour (Institut für Museumsforschung, Stiftung Preußischer Kulturbesitz) und Katrin Vohland (Naturhistorisches Museum Wien) – und ihr diesjähriger Sprecher, DLF-Kulturredakteur und Buchautor Stefan Koldehoff, haben aus 191 Titeln von 115 Verlagen acht ausgewählt. Wie in jedem Jahr dürfte allein schon diese Vorauswahl nicht leichtgefallen sein.
Auf zum Lese-Marathon
Im Folgenden wollen wir uns die thematisch wieder sehr unterschiedlichen Titel einmal anschauen und ebenfalls werden wir wieder einige der Nominierten bis zur Verleihung des Deutschen Sachbuchpreises am 11. Juni 2024 in der Hamburger Elbphilharmonie besprechen. Die Preisverleihung wird live übertragen und ist auf YouTube und der Website des Deutschen Sachbuchpreises zu sehen.
Hier die Liste der Nominierten (alphabetisch sortiert nach Autor*innen; UPDATE, 11. Juni 2024 – der Gewinnertitel ist hervorgehoben):
- Jens Beckert: Verkaufte Zukunft. Warum der Kampf gegen den Klimawandel zu scheitern droht; Suhrkamp Verlag
- Sebastian Conrad: Die Königin. Nofretetes globale Karriere; Propyläen Verlag
- Ruth Hoffmann: Das deutsche Alibi. Mythos >>Stauffenberg-Attentat<< – wie der 20. Juli 1944 verklärt und politisch instrumentalisiert wird; Goldmann Verlag
- Roman Köster: Müll. Eine schmutzige Geschichte der Menschheit; C.H. Beck Verlag
- Christina Morina: Tausend Aufbrüche. Die Deutschen und ihre Demokratie seit den 1980er Jahren; Siedler Verlag
- Frauke Rostalski: Die vulnerable Gesellschaft. Die neue Verletzlichkeit als Herausforderung der Freiheit; Edition Mercator bei C.H. Beck
- Marcus Willascheck: Kant. Die Revolution des Denkens; C.H. Beck Verlag
- Moshe Zimmermann: Niemals Frieden? Israel am Scheideweg; Propyläen Verlag
Zunächst stellen wir fest, dass der Münchener C.H. Beck Verlag auch in diesem Jahr wieder mit drei Titeln vertreten ist – beste Chancen ein zweites Jahr in Folge den Preis zu holen? Wir werden sehen. Auch dass ein Buch aus der Edition Mercator nominiert ist, ist bereits zum zweiten Mal der Fall. Im vorvergangenen Jahr fanden sich Steffen Maus Sortiermaschinen auf der Liste.
Müll fand sich kürzlich auf der Shortlist des Österreichischen Wissenschaftsbuchs des Jahres. Nun also auf der Liste zum Sachbuchpreis des Jahres. Aus der Begründung der Jury:
„Die große Leistung des Autors Roman Köster besteht darin, die Produktion von Müll als intrinsisches Problem unserer Wirtschaftsweise – ‚unseres täglichen Lebensvollzugs” – zu beschreiben. Er analysiert die Geschichte der Entstehung von Müll und die Verbindung mit der kapitalistischen Wirtschaftsweise auf sehr verständliche Art, unterstützt durch anschauliche Beispiele.“
Dass eines der in diesem Kant-Jahr zahlreich erscheinenden Bücher über den Philosophen auf der Liste steht, überrascht kaum (eher schon, das Caspar David Friedrich fehlt, wobei zu diesem eher Text-Bildbände und Ausstellungskataloge erscheinen als Biografien, sieht mensch einmal von Florian Illies‚ eindrücklichem Werk Zauber der Stille ab; eine Rezension folgt noch). Aus der Jury-Begründung zur Nominierung Marcus Willascheks:
„Es gelingt ihm, die gesamte thematische Breite des kantischen Denkens in eindrucksvoller Klarheit zugänglich und verständlich zu machen. Allein das wäre verdienstvoll. Die besondere Leistung des Buches liegt aber darin, die Aktualität Kants zu demonstrieren, indem es fortwährend an aktuelle Debatten und Begriffe anschließt: Freiheit, Demokratie und Menschenwürde, die Motivation zu politischem Handeln im Angesicht dramatischer Krisen, die Wichtigkeit des Projekts der Aufklärung und die Grenzen unseres Wissens – ohne eine kritische Distanz zu Kant zu verlieren. Ja, man kann Kants Gedanken verstehen. Und ja: man sollte es auch. Heute mehr denn je.“
Mit Die vulnerable Gesellschaft von Frauke Rostalski ist – wie in jedem Jahr – ein Titel nominiert, der perfekt zu aktuellen Debatten (und 2024 auch zum Superwahljahr) passt. Die Jury zur Nominierung:
„Verletzlichkeit – angesichts bedrängender Krisen wie Krieg, Pandemie oder Klimawandel hat sich ein neuer Schlüsselbegriff herausgebildet, der im Zentrum des Buches von Frauke Rostalski steht. Die Rechtswissenschaftlerin untersucht verschiedene Facetten dieses Phänomens, angefangen vom gesetzlichen Schutz besonders vulnerabler gesellschaftlicher Gruppen bis hin zu einer Atmosphäre im öffentlichen Diskurs, die vor allem bei kontrovers verhandelten Themen zu einer Einschränkung der individuellen wie gesellschaftlichen Freiheit führen kann. Mit Scharfsinn analysiert die Autorin das Spannungsverhältnis zwischen Vulnerabilität und Freiheit, ohne beide gegeneinander auszuspielen.“
Auch der Propyläen Verlag ist kein Unbekannter: 2022 holte Stephan Malinowski mit Die Hohenzollern und die Nazis verdientermaßen den Preis für das zum Berliner Ullstein Verlag gehörende Haus ins… nun ja Haus. (Apropos Ullstein: Wir hätten uns auch sehr gefreut Hami Nguyen Das Ende der Unsichtbarkeit auf der Liste zu finden.) Spannend ist, dass mit Die Königin von Sebastian Conrad und Niemals Frieden? von Moshe Zimmermann zwei sehr unterschiedliche Titel nominiert sind. Zum einen eine Entdeckungsgeschichte und zum anderen ein Debattenbeitrag zum Angriff auf Israel im vergangenen Oktober und die Reaktion darauf.
Die Jury zu Nofretetes globaler Karriere:
„Er [Sebastian Conrad, Anm. d. Red.] nutzt dieses sehr konkrete Objekt, um die aktuellen globalen Diskurse zum Umgang mit kolonialem Unrecht und epistemischen Hegemonialkämpfen darzustellen, auch mit einer klaren Haltung gegenüber der Restitutionsfrage. Gelungen an dem Buch ist zudem die Verknüpfung von vielfältigen und auch emotional besetzten Feldern mit dem Anspruch an Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit, die eigenen Interessen und impliziten Bewertungen ehrlich zu reflektieren.“
Und zu Niemals Frieden?:
„Er [Moshe Zimmermann, Anm. d. Red.] beschreibt kenntnisreich den jahrzehntelangen Teufelskreis aus Gewalt und Gegengewalt, einen Kampf der Kulturen in seiner Heimat: zwischen West und Ost, zwischen Jüd*innen und Muslim*innen, zwischen gewaltbereiten und liberalen Gruppen auf beiden Seiten. Er denkt dabei auch die palästinensischen Perspektiven mit und schlägt eine gemeinsame Verfassungskonstruktion für beide Staaten vor. Perspektivenreich und hilfreich für alle, die sich gern erst informieren, bevor sie urteilen.“
Nach zweijähriger Abstinenz finden sich 2024 mit Christina Morinas Tausend Aufbrüche (war in diesem Jahr auch für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert) und Ruth Hoffmanns Das deutsche Alibi (natürlich ein solider Titel für 2024, jährt sich das Attentat doch zum 80. Mal) wieder Titel der Penguin Random House Verlagsgruppe unter den Nominierten. 2021 war Andreas Kossert mit seinem famosen, mutigen und bewegenden Flucht. Eine Menschheitsgeschichte für den Sachbuchpreis nominiert.
Lesen wir doch einmal, was die Jury um ihren Präsidenten Stefan Koldehoff zu den beiden Büchern meint und beginnen mit den Tausend Aufbrüchen:
„Christina Morina analysiert in ihrer methodisch spannenden Studie das divergierende Demokratieverständnis der Ost- und Westdeutschen seit den 1980er Jahren anhand bislang nicht ausgewerteter Briefe, Petitionen und Flugblätter einfacher Bürgerinnen der Bundesrepublik und der DDR. Auf diese Weise gelingt ihr eine profunde deutsch-deutsche Demokratiegeschichte ‚von unten‘ jenseits vorgefertigter Erzählmuster und polemischer Einseitigkeiten. Sie eruiert einerseits eine ostdeutsche ‚Demokratieanspruchsgeschichte‘, die auf dem Misstrauen der Bürger*innen gegenüber dem Staat bei gleichzeitiger Identifikation mit dem Land und seinen Idealen basierte, und nimmt andererseits die ‚Bonner Republik‚ als Verlustgeschichte in den Blick. Den verhärteten Ost-West-Debatten gibt ihr Buch neue Impulse und Perspektiven.“
…und gehen nun zu Herrn Stauffenberg und dessen Verklärung:
„Die Journalistin Ruth Hoffmann hat sich nicht weniger vorgenommen, als einen deutschen Mythos zu dekonstruieren. Das Attentat vom 20.07.1944 gegen Hitler wurde immer wieder aus verschiedenen Richtungen instrumentalisiert und ist damit, so Hoffmann, zum ‚deutschen Alibi‘ geworden. Sie schafft es überzeugend, die unterschiedlichen Kontexte zu erläutern und die oftmals perfiden Nutzbarmachungen aufzudecken. Besonders wertvoll ist dabei, dass sie nicht am gewählten Beispiel hängen bleibt. Sie verdeutlicht die historische Tiefe von Ereignissen und ihre Wirkung bis heute. Gerade vor dem Hintergrund aktueller Debatten zeigt die Autorin, wie wichtig eine holistische Betrachtung ist, die außerdem überraschende Einsichten bietet. Dass sie es darüber hinaus schafft, dies fesselnd zu schreiben, hat die Jury für das Buch eingenommen.“
Beide Titel klingen vielversprechend und eine*r unserer Kolleg*innen hat bereits vor einiger Zeit begonnen, Christina Morinas Buch zu lesen und zeigt sich angetan. Ruth Hoffmanns Analyse ist erst in den vergangenen Tagen erschienen.
Last but not least: Jens Beckerts Verkaufte Zukunft (ebenfalls für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert gewesen) aus dem Berliner Suhrkamp Verlag, ebenfalls kein Unbekannter auf der Nominierten-Liste. 2022 war mit Das rationale Tier von Ludwig Huber ein Titel in der engeren Auswahl, der sich auf faszinierende und bisher selten beachtete Weise der Denkweise von Tieren annährte. Nun also der zu scheitern drohende Kampf gegen den Klimawandel. Die Jury dazu:
„Dieses Buch flüchtet sich nicht in positives Denken oder apokalyptische Anklage; es meidet die ausgetretenen Pfade moralisierter Lebensstilentscheidungen und marktgläubiger Technologieoffenheit. Aus sozioökonomisch informierter Perspektive belegt Beckert, wie unser Wirtschaftssystem Klimaschäden in vielen Fällen nur externalisiert und sozialen Stress im globalen Maßstab verstärkt. […] Ein Buch, das hoffentlich viele Leser*innen zwischen Milieus und Denkschulen ins Gespräch und ins Handeln bringt.“
Wie bereits erwähnt: Eine großartig vielseitige Liste an nominierten Autor*innen und deren Titeln. Wir werden uns – wie in jedem Jahr – bemühen diverse davon zu besprechen. Wenn auch das Interesse an allen sehr groß ist. Auf den Müll jedenfalls gehört keines davon. In diesem Sinne: Herzliche Glückwünsche allen Nominierten und den Verlagen – und viel Erfolg!
Und wieder schließen wir mit den Worten Jürgen Kaubes, Gewiner des Deutschen Sachbuchpreises 2021: „Lesen Sie auch die anderen Bücher.„
Zum Preis:
Die Stiftung Buchkultur und Leseförderung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels vergibt die mit insgesamt 42.500 Euro dotierte Auszeichnung an ein herausragendes Sachbuch in deutschsprachiger Originalausgabe, das Impulse für die gesellschaftliche Auseinandersetzung gibt. Der oder die Preisträger*in erhält 25.000 Euro, die sieben Nominierten erhalten je 2.500 Euro. Vergangenes Jahr erhielt Ewald Frie die Auszeichnung für sein Werk Ein Hof und elf Geschwister.
Hauptförderer des Preises ist die Deutsche Bank Stiftung, darüber hinaus unterstützen die Stadt Hamburg und die Frankfurter Buchmesse die Auszeichnung.
QR (mit Material des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels e. V.)
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