Was in dieser Woche in der Ukraine passiert ist, hat uns alle schockiert, bewegt und lange wach gehalten. Wir können nicht klagen, wir sollten nicht klagen, denn das Leid der Menschen in der Ukraine ist vermutlich mit wenig vergleichbar. Und doch sitzt der Schock auch bei uns „im Westen“ tief.
Die Welle der Solidarität mit der Ukraine, dem ukrainischen Volk und auch den Bewohnerinnen und Bewohnern nicht-ukrainischer Staatsbürgerschaft ist groß. Ob auf Solidaritätskundgebungen in ganz Deutschland und anderen Ländern oder online, es zeigt sich, dass die informierte Öffentlichkeit auf Seite derer steht, die nun in der Ukraine unter der Aggression von Wladimir Putin und der ihn umgebenden Herrscherkaste in Moskau leiden.
Die Gefahr ist real
Wir haben in den letzten Tagen die Nachrichten und Meldungen in den sozialen Netzwerken verfolgt. Fast jede:r hat dieser Tage eine Meinung, eine so genannte Haltung. Wir haben versucht, einige Stimmen einzufangen und wiederzugeben. Sie sind geprägt von Schock und Ungläubigkeit. Vor allem aber sehen wir, wie groß die Solidarität mit den Menschen in der Ukraine wirklich ist. Zwischen der Situation von Menschen, deren Leben nun deutlich schwieriger werden dürfte und den Auswirkungen, die Putins Einmarsch auch für „uns“ hat, changieren die Einschätzungen der leider ausschließlich männlichen Politiker und Experten, die uns so kurzfristig für Gespräche zur Verfügung standen.
An alle potenziellen Gesprächspartner:innen haben wir einen ähnlichen Fragenkatalog geschickt; bei politischen Akteur:innen haben wir natürlich auch geschaut, in welchem Ausschuss sie aktiv sind, was ihr Fachgebiet ist. Wir haben uns ausschließlich an die Parteien im demokratischen Spektrum gewandt. Womit wir schon den Bogen zu einer harten Frage schlagen können: Gibt es Deportations- bzw. Todeslisten, die zivilgesellschaftlich engagierte Personen in und aus der Ukraine in den Fokus nehmen, wie es die amerikanische UN-Botschafterin Linda Thomas-Greenfield der Hohen Kommissarin für Menschenrechte der Vereinten Nationen, Michelle Bachelet, mitgeteilt hat.
Der LGBTIQ*-Aktivist Erik Jödicke meint dazu, dass die Existenz dieser Listen zwar noch nicht bestätigt sei, „aber wenn sich das bestätigen sollte, ist es wahrscheinlich bereits zu spät.“ Es müsse, so Jödicke, davon ausgegangen werden, dass die US-Botschafterin bei der UN diese Informationen nicht weitergegeben hätte, wenn diese Listen Unsinn wären. Doch selbst falls sich ihre Existenz nicht bestätigen sollte: Die Gefahr für die LGBTIQ*-Community, für zivilgesellschaftlich engagierte Personen und Kritiker:innen ist real.
Kiew galt, auch wenn die Ukraine schon zuvor nicht der liberalste Staat gewesen sei, was LGBTI*-Rechte angeht, wie der queerpolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Jürgen Lenders, anmerkt, als einziger einigermaßen sicherer Hafen für LGBTIQ*s in der Region, gerade mit Blick auf Russland oder auch Tschetschenien, Belarus, etc. – Gebiete, die unter der Einflussnahme Russlands und Putins stehen, sind für queere Menschen mehr als gefährlich. Diesen deutlichen Hinweis geben uns alle Gesprächspartner:innen. Erik Jödicke ergänzt dazu: „Es ist ein Fakt, dass Menschen, die vom russischen Staat verfolgt wurden, nach Kiew geflohen sind und nun wieder in die Einflusssphäre des russischen Staates geraten. Das kann niemand wegargumentieren.“
Der Mangel konkreter Einschätzungen
Das bestätigt auch der queerpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Falko Droßmann, wenn er sagt, dass „überall, wo Putin den Ton angibt, das Leben für Menschen, die nicht seiner Norm, die nicht dem heteronormativen, christlich-orthodoxen Weltbild entsprechen, schlechter wird. Das wissen wir aus Russland selber und allen Gebieten, in denen Russland sich engagiert.“ Umso erstaunlicher ist es für uns, dass es weder seitens der Bundesregierung noch des Parlaments eine konkrete Einschätzung der Gefahrenlagen für queere Menschen in der Ukraine gibt. Oder womöglich doch?
Max Lucks von Bündnis 90/Die Grünen hierzu: „Hier spielen verschiedene Aspekte eine Rolle: Die Berichte der amerikanischen UN-Botschafterin über Todeslisten, auf denen neben ukrainischen Oppositionellen und Zivilgesellschaft auch LGBT-Aktivist:innen stehen. Ukrainische Staatsbürger dürfen ohne Visum in die EU einreisen und sich bewegen. Wir müssen uns – und das tut die Bundesregierung, soweit ich das verfolge – um die Menschen kümmern, die in der Ukraine im Exil lebten. Darunter fallen beispielsweise Menschen aus Russland oder Belarus, die Teil der LGBT-Community sind und auch diesen Menschen müssen wir nun helfen. Putins Angriff zielt am Ende auch und besonders auf diese Menschen und deshalb haben wir eine besondere Verantwortung, diese zu schützen.“
Ganz klar gilt es hier zu bedenken, dass wir uns, so Jürgen Lenders, noch in einem sehr frühen Stadium befinden und gegebenenfalls mehr wissen können, nachdem der Bundestag und der Menschenrechtsausschuss am morgigen Sonntag zusammengetreten sein werden. Lenders betont: „Mit unserem menschenrechtspolitischen Sprecher und auch unserem außenpolitischen Sprecher, bin ich im Gespräch, um sie auch für diese Gesichtspunkte zu sensibilisieren.“
Ist das BAMF vorbereitet?
Max Lucks: „Man kann leider nicht überall vor Ort wirken und vor Ort die Dinge ändern. Hier sind die Mittel der Außenpolitik begrenzt. Aber man kann bestimmte Fragen in den Fokus rücken und dazu gehört die Frage der verfolgten Zivilgesellschaft oder einer unterdrückten LGBT-Community. Hier kann man im Land direkt vermutlich nicht so sehr helfen, außer dass man vereinfachte Asylverfahren zugänglich macht und Exilbewegungen Raum gibt, sich zu entfalten.“
Sensibel sollte auch der Umgang des BAMF (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) sein, das sich in den letzten Jahren nicht mit Ruhm bekleckert hat. Jürgen Lenders weist darauf hin, dass die Ukraine ein Kriegsgebiet sei und „damit genießen die Menschen von dort subsidiären Schutz, ganz gleich, ob aus der LGBTQ*-Community oder nicht. Wir wissen, dass Putin gesagt hat, er wolle alle politischen Funktionsträger zur Rechenschaft ziehen, das sind beängstigende Worte. Nach dieser Lesart sind also alle zivilgesellschaftlich engagierten Personen gefährdet. Inwieweit es möglich ist, diese aus dem Land zu bringen, das ist mit Blick auf die Umstände schwierig zu sagen.“
Eine normale Arbeit der LGBTIQ*-Organisationen in der Ukraine sei derzeit nicht möglich, da sind sich unsere Gesprächspartner:innen einig. Dennoch sei es wichtig für die Community, dass diese nach wie vor zu erreichen seien, auch um Hilfe zu organisieren, sagt Erik Jödicke. Und weiter: „Die Europäische Union hat die Grenzen für Menschen aus der Ukraine komplett geöffnet, sie können ohne große bürokratische Hürden einreisen. Wir reden hier ja aber nicht nur von diesem einen schwulen Schutzsuchenden oder jener nicht-binären Person, wir reden, mit Blick auf die vermutlich existierenden Deportationslisten, von Aktivist:innen. Der Plan, der hinter diesen Listen steht, ist es, die Zivilgesellschaft von möglichem Protest gegen die russische Okkupation abzubringen. Dazu muss man eben die Schlüsselfiguren der Zivilgesellschaft, die als LGBTIQ*-Organisationen und deren Stimmen untereinander gut vernetzt sind, ausschalten. Das ist das Ziel.“
Ergänzend hierzu hat sich der stellvertretende Vorsitzende der Lesben und Schwulen in der Union (LSU), Thomas Schmitt, geäußert: „Sollte es zu einer verstärkten Flüchtlingsaufnahme in Deutschland und deren Verteilung in den Ländern kommen, werden wir als LSU darauf drängen die mit der Aufnahme befassten Behörden gezielt für LSBTI-Geflüchtete zu sensibilisieren. Im Sinne einer weiteren Nachsorgepflicht werden wir auch den Blick darauf richten LSBTI-Geflüchtete schnellstmöglich mit LSBTI-Beratungs- und Anlaufstellen sowie Queer-Refugee-Netzwerken und -Initiativen in Verbindung zu bringen.“
Das Narrativ der „Entnazifizierung“
Gerade hinsichtlich der Generalmobilmachung ist das natürlich eine kritische Frage – verhindert sie doch die Ausreise von Männern, die zwischen 18 und 60 Jahre alt sind. Moralisch mobilisiert mögen die Menschen in der Ukraine aber ohnehin dadurch sein, dass ihr Präsident Wolodymyr Selenskyj nicht das Mittel der Flucht gewählt hat. Dies mag unterstützend wirken, so hat es auch die Autorin von Die Frauen von Belarus, Alice Bota, bei Twitter eingeschätzt.
In Russland wird derweil ein ganz anderes Narrativ verbreitet, nämlich das eines Angriffs auf das Leben russischer Menschen in der (Ost-)Ukraine, das des Bemühens „um eine Entnazifizierung“ der Gebiete. Gerade in Anbetracht der Tatsache, dass der demokratisch gewählte ukrainische Präsident jüdischer Herkunft ist, ist das mehr als zynisch, da sind sich alle unsere Gesprächspartner einig.
Und doch verfängt dieses Narrativ in Teilen Russlands; zwar gibt es Solidaritätsbekundungen, darauf verweist auch Erik Jödicke, dessen Schwerpunkt auf Ost- und Mitteleuropa liegt. Doch seien dies, so sagt es der Journalist und Politikwissenschaftler Jens Siegert, der in Moskau am Weißrussischen Bahnhof, ungefähr drei Kilometer vom Kreml entfernt lebt, keine Massendemonstrationen, zumindest am Samstag nicht (mehr).
Um dem russischen Aufmarsch etwas entgegensetzen zu können, ist es wichtig zu verstehen, was in der Ukraine und in Moskau passiert und warum es passiert. All unsere Gesprächspartner waren sich einig, dass die Russlandpolitik in der jüngeren bundesrepublikanischen Vergangenheit vernachlässigt wurde. FDP-Mann Jürgen Lenders beispielsweise meint: „Ich glaube, wir haben die Russlandpolitik viel zu lange aus den Augen verloren. Wir haben gesehen, was Putin mit der Krim und Georgien gemacht hat. Wir haben es hier mit einem handfesten Landkrieg zu tun, den wir seit 80 Jahren nicht mehr gesehen haben. Es war so unvorstellbar, dass Putin so einen Krieg anfängt, aber hinterher ist das eben immer leichter zu sagen.“
„Niemand hat die Warnungen ernst genommen“
Dem schließt sich der Russlandexperte Jens Siegert an: „Vor drei, vier Tagen hätte auch ich nicht damit gerechnet, bis zur Sitzung des Nationalen Sicherheitsrats am Montag. Bis dahin war ich ziemlich sicher, dass der Einmarsch in die Ukraine nicht passieren würde, weil ich es aus Putins Sicht für die schlechteste Alternative hielt.“ Das hat wohl nicht nur er so gesehen, wie eine weitere Einlassung von ihm vermuten lässt: „Im Grunde kenne ich niemanden, der wirklich damit gerechnet hat, dass Putin diesen Krieg so anfängt. Die US-amerikanischen und britischen Geheimdienste haben davor gewarnt, wurden aber nicht wirklich ernst genommen.“
Im Zusammenhang von Ursache und notwendigen Reaktionen, sagt Max Lucks, Obmann der Grünenfraktion im Menschenrechtsausschuss des Deutschen Bundestags: „Der Krieg ist auch eine Reaktion Putins auf Bewegungen in der Zivilgesellschaft. Das heißt, unsere Reaktion hierauf muss darauf abzielen, diese Zivilgesellschaft zu stärken, z. B. durch erleichterte Zugänge zu humanitären Visa, aber auch durch harte Sanktionen, die einen Machtwechsel im Kreml wahrscheinlicher machen könnten.“ Das wird ein langer Weg.
Gerade mit Blick auf die nur zögerlich aufgebrachten Sanktionen. Immerfort hieß es, dieser Angriff sei inakzeptabel, doch großen Worten folgten keine konkreten Handlungen. Erik Jödicke sagt hierzu, dass es wichtig sei, auch Druck auf unsere Entscheider:innen auszuüben, massive Sanktionen zu beschließen, wie auch jener, Russland aus dem Swift-System auszuschließen. Das kann natürlich nur einstimmig durch die EU-Staaten beschloßen werden, doch war die Positionierung der Bundesregierung hier lange klar uneindeutig und verzögernd. Am Samstagabend jedoch scheint zunehmend Bewegung in diese Angelegenheit zu kommen und eine „gezielte Sanktionierung“ im Rahmen von Swift möglich zu sein.
Zuvor hatten sowohl Bundeskanzler Olaf Scholz, als auch Außenministerin Annalena Baerbock vor den Folgen eines solchen Schritts gewarnt. Baerbock sprach gegenüber der ARD von den „massiven Kollateralschäden“, die dieser mit sich brächte, unter anderem da er sich auf Öl- und Gaslieferungen auswirken würde. Von diesen Kollateralschäden sprach aber auch Jens Siegert, der dennoch anmerkte, dass es bedeutender Signale und Maßnahmen bedürfe. Wenn also die so geschätzte Worthülse „Haltung“ einmal mit etwas Substanziellem unterfüttert werden könnte, dann hier. Davon abgesehen kommt der Sommer und das Auto mal stehen zu lassen, täte der Umwelt auch gut.
„Eine Situation wie in Afghanistan“
„Welche Lehren zieht Putin daraus? Dass er so weitermachen kann?“, fragt sich auch Jürgen Lenders. „Ich glaube, dass die Sanktionen so greifen müssen, dass Putin und sein Umfeld sie zu spüren bekommen. Seine Intentionen sind für uns aber wie ein Blick in die Glaskugel.“ Ist dem so? Ist es nicht einigermaßen absehbar, dass Putin eine gesamte Region im Blick hat? Natürlich liegen Wunsch und Wirklichkeit des russischen Aggressors hier gegebenenfalls weit auseinander, wie auch Falko Droßmann, der auch Mitglied des Auswärtigen Ausschuss ist, anmerkt: „Eine große Frage wird sein, ob Russland es dauerhaft schafft, diese riesige Landmasse der Ukraine zu besetzen, inklusive der gesamten zivilen Einrichtungen, der Administration. Militärisch könnte er das schaffen, aber die Frage ‚Was mach ich dann?‘ steht auf einem anderen Blatt. Zumal davon auszugehen ist, dass die Mehrheit der Ukrainer:innen ihn ablehnt.“
Jens Siegert, dessen aktuelles Buch Im Prinzip Russland – Eine Begegnung in 22 Begriffen allen Parlamentarier:innen empfohlen sei, fordert ein konsequentes Problembewusstsein: „Wenn Biden 350 Millionen Dollar schickt, sollten wir uns in einer ähnlichen Größenordnung bewegen, was die Unterstützung angeht. Auch wenn die USA größer sind als Deutschland, es sollte der Eindruck vermieden werden, dass die Deutschen sich wegducken. Denn ein ‚Oh-Oh, es könnte Schwierigkeiten für uns geben‘ und im nächsten Urlaub nur zwei statt drei Wochen nach Italien fahren, das geht nicht.“ Aber was ist das schon im Vergleich zu dem, was die Menschen in der Ukraine nun durchmachen müssen?
Denn dass Putin militärisch in der Lage ist, sich zu halten, das bezweifelt keiner unserer Gesprächspartner. Sich dauerhaft zu verteidigen, dürfte den ukrainischen Kräften schwerfallen. „Wenn sie keine regulären Truppen mehr haben, wird es schwer werden, weiterhin Widerstand zu leisten. Es kann sein, dass es für Russland zu einer Situation wie in Afghanistan mit einem permanenten Widerstand kommt“, sagt Jürgen Lenders und ergänzt: „Aggressive Regime wissen durchaus, was sie bei einem Einfall ‚nach Drehbuch’ tun: eine freundliche Regierung einsetzen, so zu tun, als wäre dieses Land noch unabhängig, ähnlich wie die Sowjetunion ihre Satellitenstaaten lenkte.“
„Das ist reiner Antiamerikanismus“
Das hätte schwere Folgen für die Ukraine, aber auch eine fatale Signalwirkung für uns, wie der Grünen-Politiker Max Lucks ergänzt: „Von der Installierung eines möglichen Marionettenregimes in Kiew könnte ein erheblicher Schaden ausgehen. Bei Putin kann der Eindruck entstehen, dass er mit seinen Machenschaften durchkommt und dann hätten viele zu zittern – nicht nur in den Nachfolgegebieten der Sowjetunion, sondern auch in Staaten, die sich im Rahmen des Warschauer Pakts einverleibt wurden. Hier steht zu vermuten, dass es ein unterschiedliches Interesse Putins gibt, weil er diese postsowjetische Schiene mit seinen Narrativen einschlägt. Die Frage wird sich aber – für den Westen – in der Ukraine entscheiden, denn dort wird ein Exempel statuiert, um eine Legitimation von Herrschaft über den postsowjetischen Raum auszuüben. Wenn ihm das gelingt, ist das ein bedrohlicher Zustand, gerade für unsere NATO-Partner im Baltikum.“
Apropos Legitimation: Die Frage inwieweit die Aggression Russlands aus mancher Richtung, auch von Menschenrechtsaktivist:innen gerechtfertigt wurde, hat uns schon kürzlich beschäftigt. Gerade queere Stimmen, die diese Richtung einschlugen, hatten uns irritiert. Erik Jödicke, Mitglied im Bundesvorstand bei Lambda e. V., sagt dazu: „Das ist kein per se queeres, sondern ein linkes Narrativ, das sich aus der Abgrenzung zur NATO begründet, quasi ein Blockdenken noch aus dem Kalten Krieg. Als Widerpart zu den USA und der NATO, die man halt als Imperialisten und Kapitalisten nicht mag, was absurd ist, weil Russland ebenso imperialistisch und kapitalistisch geprägt ist. Dennoch wird in diesem Narrativ Russland als der Partner, den man haben sollte und die USA als jener, den man nicht haben sollte, angesehen. Da wird eine abstruse Dualität aufgemacht, einfach, um sich von den USA abzugrenzen. Das ist reiner Antiamerikanismus. Die Linke hat das lange betrieben, auch große Teile linker Bewegungen, ob also nun parlamentarisch oder außerparlamentarisch, das ist stark verwurzelt.“
Das jedoch sind Punkte, die sich auch nach der heißen Phase dieses Krieges erörtern und hinterfragen lassen und lassen müssen. Übrigens haben wir natürlich auch die queerpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion der Linken, Kathrin Vogler, um ein Statement gebeten; ihr Büro hat uns bis heute nicht geantwortet. Dafür wussten Lorenz Maroldt und Team im heutigen Tagesspiegel-Checkpoint von der Stellungnahme des Berliner Linken-Abgeordneten Ferat Ali Kocak zu berichten: „Er fordert zwar ‚ein sofortiges Ende der russischen Militärschläge‘, macht aber die deutsche Bundesregierung, die EU und die Nato dafür verantwortlich – diese hätten ‚den Konflikt über Jahre hinweg verschärft und stehen in der Verantwortung, jetzt zur Deeskalation und Frieden beizutragen.‘“ Was hat Erik Jödicke zuvor noch eben angemerkt? Ganz genau.
Die Lobby der Marionetten
Auch die Frage des Umgangs der Kanzlerpartei SPD mit diesem Konflikt, mit Blick auf eine Ministerpräsidentin Manuela Schwesig und ihrem kaum mehr zu rechtfertigenden Einsatz für die Stiftung Klima- und Umweltschutz MV oder einen Marionetten-Lobbyisten Gerhard Schröder, sollte bei Gelegenheit hinterfragt werden – auch wenn sie gemeinsam mit SPD-Chef Lars Klingbeil und Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil zwischenzeitlich Schröders Verzicht auf entsprechende Ämter öffentlich einforderte.
Sie alle sind natürlich nicht unmittelbarer Teil der Bundesregierung, dennoch wirken sie nach außen. Für den Grünen Max Lucks steht allerdings klar die Arbeit der aktuellen Regierungsmitglieder im Vordergrund und er lobt die sehr klare Politik von Olaf Scholz. Wir würden hier widersprechen und sagen, dass der Bundeskanzler und Teile der Regierung erst dann konkret werden, wenn’s eigentlich schon derb zu spät ist. Siehe Swift und Helme, die irgendwie immer noch auf dem Weg sind.
Gerade in Anbetracht einer weiteren Fragestellung, die Lucks aufbringt, treibt uns das um. „Alle politischen Akteure müssen sich jetzt fragen, was die aktuellen Entwicklungen für die gesamte Friedensordnung weltweit und für Deutschland bedeuten und welche Fehler in der Vergangenheit möglicherweise in der Russlandpolitik gemacht wurden. Das schließt meine Partei ebenso wie auch alle anderen demokratischen Parteien ein.“ Sein Wort in Entscheidungsträger:innen Ohren. Er ergänzt übrigens, und das finden wir sehr sexy: „Ich finde auch, dass Gerhard Schröder keine Sekunde länger im Gazprom-Aufsichtsrat sitzen sollte, aber das ist eine Angelegenheit, die die SPD lösen muss.“ Siehe oben.
„Das kann mensch nicht zivilisiert nennen“
Einen weniger verqueren und dafür umso menschlicheren Blick hat der LSU-Mann Thomas Schmitt: „Als LSU gilt unsere Sorge dem Schutz aller Menschen in der Ukraine. Sie sind es, die als Erste die schlimmen Folgen dieses Krieges durch Zerstörung, existenzielle Not, unsägliches Leid und zertrümmerte Lebensträume spüren werden. Der mit Krieg einhergehenden Gewalt sind gerade Frauen, Kinder und Minderheiten am schutzlosesten ausgeliefert. Unsere Sorge gilt vor allem Ihnen. Als politische LSBTI-Organisation, die sich im europäischen Verbund auch international für die Rechte von LSBTI und deren Schutz vor Diskriminierung, Verfolgung und Gewalt einsetzt, sind wir natürlich auch in Sorge um die Sicherheit, der in der Ukraine lebenden LSBTI. Dazu stehen wir aktuell im sehr engen Austausch mit unseren europäischen Schwesterorganisationen innerhalb der European Centre-right LGBT+ Alliance.“
„Vielen Menschen dürfte aufgefallen sein, dass dieser Krieg tatsächlich näher dran ist, als die letzten Urlaubsziele. Das allein schockiert auch mich. Was ich aber noch viel schlimmer finde, wir bezeichnen uns als zivilisierte Welt und doch finden irgendwelche ‚Hirsels‘ immer wieder zu martialischen Mitteln zurück. Ich kann Euch nur sagen, die Basis für sowas legen solche Angriffe wie der von Beatrix v. S. und dann sind solche ‚Befreiungsaktionen‘ wie dieser Krieg nur logische Konsequenz. Das zeigt einmal mehr, wie wichtig es ist, sich solidarisch zueinander zu stellen und solchem ‚Machtgehabe‘ Einhalt zu bieten. Es geht hier schließlich darum eine weitere Gesellschaft zu annektieren und auszubeuten. All das kann mensch nicht zivilisiert nennen.“
Frank Hebenstreit
Bleibt zum Schluss die Frage, die wir auch weiter oben schon andeuteten: Gehen oder bleiben? Können zivilgesellschaftliches Engagement und queerer Aktivismus in der Ukraine noch funktionieren? Alle unsere Gesprächspartner sind sich einig, dass es überheblich und vermessen wäre, eine konkrete Handlungsempfehlung abzugeben. Erik Jödicke rät allerdings dazu, zu versuchen sich auf die Relocation-Listen der Botschaften setzen zu lassen und verweist darauf, dass Israel bereits begonnen hätte, jüdische Menschen aus der Ukraine auf ihre Listen zu setzen, auch mit einem besonderen Fokus auf LGBTIQ*.
Jürgen Lenders von der FDP stellt die Vermutung an, „dass Putin bereits einen Plan hat, was er mit dem Land machen will. Und dann sehen wir ein Land, das unter der Fernbedienung von Russland agiert, aber kein freies Land mehr ist. Die Presse wird gleichgeschaltet, Pressefreiheit wird ausgeschaltet und die Freiheit des Landes besteht nicht mehr.“ Er würde Aktivist:innen raten: „Guckt, dass ihr da wegkommt. Auch wenn es eine ganz schwierige Frage ist, ob man die Heimat verlassen will; die können die Menschen nur für sich persönlich beantworten.“
Kein Rückzug, kein Frieden
Der SPD-Außen- und Verteidigungspolitiker Falko Droßmann gibt ebenfalls zu, dass es extrem überheblich wäre, „Menschen, die zivilgesellschaftlich engagiert sind, zu raten zu gehen oder zu bleiben. Wenn Panzer vor meiner Tür stehen, ist natürlich die Frage, ob es dann so klug ist, mich als LGBT-Aktivist:in zu betätigen, klar. Die Sicherheit geht vor und das müssen die Menschen selber entscheiden. Natürlich stehen wir, egal wie sich entscheiden, an deren Seite.“ Er fügt an: „Bei meinen Gesprächen mit Vertreter:innen der ukrainischen Queercommunity war beeindruckend, dass es ihnen nicht um LGBT-spezifische Ängste geht. Sie haben Angst um ihr Land, ihre Freiheit, ihre Demokratie. Sie sind entschlossen, den Weg nach Europa weiter zu gehen.“
Und Max Lucks meint ganz treffend: „Ich kann nicht vom warmen Sofa aus sagen, ob Menschen die Ukraine verlassen sollten. Die Frage, wie sicher der Weg zur Grenze wäre, spielt da auch mit rein. Was ich aber glaube zu fühlen, ist eine unglaubliche Stärke von Menschen und LGBTQ*-Organisationen, eine Stärke, die sie auch schon 2014 gezeigt haben. Ich bin mir sicher, dass diese Stärke etwas Unbezwingbares hat und das auch ein Wladimir Putin spüren wird.“
Allein es fehlt uns der Glaube. Etwas, das Jens Siegert in unserem Gespräch sagte, gibt uns stark zu denken: Sollte Putin in der Tat spontan und irrational gehandelt haben und weiter handeln, ist er unberechenbar. Sollte er mit Blick auf manch historischen Vergleich, den er zuletzt zog, aus seiner Sicht rational handeln, dürfte er bereit sein, bis zum Äußersten zu gehen. Keine der beiden Optionen bedeutet Rückzug oder Frieden. Zweierlei aber ist klar: Es sind die Menschen in vielen Teilen der Welt, die sich nun um ihre eigene Sicherheit sorgen und es sind die Menschen in der Ukraine, die unter Putins Aggression leiden. Wir können uns wohl auf ein langes Jahrzehnt einstellen.
HMS, JW, AS, FH
PS: Vonseiten des ersten Queerbeauftragten der Bundesregierung, Sven Lehmann, hieß es, er sei derzeit im Urlaub und könne sich zu den Vorgängen nicht äußern. Wir meinen, ein Ministerium und die Bundesregierung sollten jederzeit auskunftsfähig sein, insbesondere in Momenten der Krise. Auch das Ministerium des Inneren und das Auswärtige Amt ließen unsere Fragen unbeantwortet.
PPS: Wir möchten betonen, wie unglaublich stark, wichtig und richtig wir das Statement von Außenministerin Annalena Baerbock zum Krieg in der Ukraine vom 24. Februar 2022 finden. Das ist in der Tat eine konkrete Haltung.
PPPS: Ein ausführliches Interview mit Jens Siegert, in dem wir u. a. auch über Memorial, Russlandverklärung und das mögliche Zittern im Baltikum sprechen, folgt; ebenso zeitnah die Besprechung seines erwähnten Buches.
PPPPS: Alle Gespräche haben wir am 25. und 26. Februar geführt, das letzte am späten Samstagnachmittag; es ging uns hier auch nicht darum, Liveticker-Eindrücke zu gewinnen – auch wenn wir die Entwicklungen weitgehend zu berücksichtigen versucht haben – sondern eine möglichst faktenbasierte Einschätzung zu bekommen; wo es an Fakten fehlte, haben wir uns auf den gesunden Menschenverstand verlassen.
PPPPPS: Als Erinnerung an bessere oder jedenfalls andere Zeiten: Schaut mal in die arte-Mediathek.
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