Eine Gastbesprechung von Dagmar Eckhardt
Wir alle kennen Tage, an denen uns unser eigenes Leben so fremd wie der Weltraum erscheint. Tage, an denen wir besondere Talente benötigen, um unseren ganz normalen Alltag zu meistern. Dann müssen wir so clever und so cool wie Astronaut*innen sein. Sie trauen sich und gehen dorthin, wo noch nie ein Mensch zuvor war. Sie sind teamfähig, kommen aber auch alleine klar. Sie haben einen Weltraumanzug, der sie vor Gefahren schützt. Sie lösen Probleme, an denen andere scheitern. Und sie können uns erklären, was und wie sie das tun!
Genau das machen die Astronautenkinder. Sie nehmen uns mit in den Weltraum, der ihr Zuhause ist. Dabei zeigen sie uns, was toll an ihrem Planeten ist und vor welchen besonderen Aufgaben sie ihr Leben stellt. Tim zum Beispiel zählt jeden Morgen um 9 die Planeten durch. Er braucht das Gefühl, dass alles seine Ordnung hat. Mia liebt es, zu zeichnen und benutzt ihre Bilder, um zu kommunizieren. Denn das verstehen die anderen Kinder erst einmal leichter als ihre Handzeichen. Zara hingegen empfindet auf sie einprallende Sinneseindrücke wie einen Meteoritenhagel und weiß sich manchmal nicht anders zu helfen, als einfach auf alles loszuballern.
Jedes Kind hat seine Techniken entwickelt, mit Herausforderungen umzugehen. Nicht alle davon sind ausgereift. Aber das macht nichts, wenn man bereit ist, aufeinander einzugehen und voneinander zu lernen. Bemerkenswert dabei finde ich auch, dass keine Begriffe wie ADHS oder Autismus genannt werden. Es geht um Kinder, um kleine Menschen, nicht um Diagnosen.
Astronautenkinder – eine Zeitreise in meine Schulzeit
Wann ist ein Buch lesenswert? Meine Antwort darauf: wenn es mich in meinem Innersten berührt. Genau das gelingt dem Bilderbuch Astronautenkinder. Dazu trägt das zurückgenommen Erzähltempo bei, das Wertschätzung und Respekt ausdrückt. Hier geht es nicht darum, aufzuzählen, wie viele Arten der Neurodiversität es gibt. Auch nicht darum, mantra-artig zu wiederholen, dass jedes Kind einzigartig ist. Jedem Kind wird Raum in Form von mehreren Seiten geschenkt, den es auf seine eigene Art füllen kann.
Das weckt bei mir eine Erinnerung. Als ich zur Grundschule gegangen bin, gab es Begriffe wie Inklusion oder Neurodiversität noch nicht. Die pädagogische Wohngruppe im Vorort hieß bei uns einfach »Heim für schwererziehbare Kinder«. Das waren Kinder wie Richard, der der liebste Junge der Welt war, wenn man ihn im Unterricht schlafen ließ. Wurde er geweckt, störte er konsequent. Alexandra hatte offensichtlich schon früh gelernt, Grenzen zu ziehen. Als die Lehrerin Frau T. den Schlüsselbund nach ihr warf, feuerte sie mit allem zurück, was sie fand. Ihre Trefferquote war gut. Beiden wurde klar signalisiert, dass sie anders sind. Sie wurden aus der Klasse aussortiert und auf die Förderschule geschickt. Obwohl deren Räume nur auf der anderen Seite des Schulhofs waren, hatten wir nie wieder etwas mit ihnen zu tun, denn die Pausen lagen zeitversetzt zu unseren.
Was wäre aus ihnen geworden, wenn jemand das Astronautenkind in Ihnen gesehen hätte? Und wie viele weniger auffällige Kinder aus unserem Klassenverband hätten noch von einer solchen respektvollen Wertschätzung profitiert? Mir fallen da einige ein.
Das Weltall – unendliche Weiten und Kinder, die aufeinander zugehen
Dank der Illustrationen fällt es Bilderbüchern leichter als anderen Büchern, die Leserinnen und Leser zu berühren. »Astronautenkinder« spielt diese Stärke souverän aus. Das Weltall ist weit, die Kinder stehen im Mittelpunkt. Sie sind aktiv, empathisch und jedes für sich ein eigener Charakter. Für alle Emotionen wie Überforderung, Wut, Sehnsucht und Orientierungslosigkeit hat Nina Taube überzeugende, aber dennoch zurückgenommene Bildlösungen gefunden. Ganz zum Schluss schlagen Geschichte und Bilder einen eleganten Bogen vom ich, vom Einzelschicksal, zum wir. So einzigartig wie jedes Kind ist, kann es doch Lösungsansätze für die Probleme anderer haben. Inklusion ist keine Einbahnstraße – wir können alle voneinander lernen!
Dagmar Eckhardt –
Liest. Genießt. Läuft durch den Wald. Ist online. Mag Mannheim. Geht auch bei schönem Wetter ins Museum. Schreibt Rezensionen und Lese-Eindrücke, sinniert über Bücher und die Buchbranche. War mal Buchhändlerin. Ist es tief im Herzen immer noch. Wird wohl auch immer Buchhändlerin bleiben. Bloggt als Buchkind über Bilderbücher und Kinderbücher; als GeschichtenAgentin meist über Sachbücher und Ratgeber.
Natascha Berger, Anna Taube: Astronautenkinder – Ein Buch über Einzigartigkeit; August 2022; Hardcover; 48 Seiten; Format: 31,5 x 23,6 cm; ISBN 978-3-8458-4877-8; arsEdition; 16,00 €
Unser Schaffen für the little queer review macht neben viel Freude auch viel Arbeit. Und es kostet uns wortwörtlich Geld, denn weder Hosting noch ein Großteil der Bildnutzung oder dieses neuländische Internet sind für umme. Von unserer Arbeitszeit ganz zu schweigen. Wenn ihr uns also neben Ideen und Feedback gern noch anderweitig unterstützen möchtet, dann könnt ihr das hier via Paypal, via hier via Ko-Fi oder durch ein Steady-Abo tun – oder ihr schaut in unseren Shop. Vielen Dank!
Comments