Grenzenlos durch die Welt

Vor ziemlich genau zehn Jahren, im Sommer 2012, hatte ich eine Hausarbeit für meinen Vertiefungskurs „Politische Theorie“ zu schreiben; Thema: disparate Grenzen, also solche, die nicht „klassisch“ mit Polizei, Zoll und Passkontrolle gekennzeichnet sind, sondern bestimmte Politiken durchsetzen sollen. Als Fallbeispiele hatte ich mir hierzu das etwa seit der Kubakrise 1962 bestehende US-amerikanische Embargo gegen Kuba und die Aktivitäten der damals noch recht unbekannten EU-Grenzagentur Frontex ausgesucht.

Grenzen haben nicht ausgedient

Dass das noch junge Jahrzehnt bald eine Flüchtlingskrise, und das darauffolgende eine globale Pandemie und den zweiten Angriffskrieg gegen die Ukraine binnen acht Jahren sehen würde, war damals größtenteils noch nicht absehbar. In all diesen Beispielen jedoch fanden Grenzen zu neuer, teils unrühmlicher Bekanntheit. Mit dem Wesen der Grenze im Zeitalter der Globalisierung beschäftigt sich auch der Berliner Soziologe Steffen Mau, dessen in der neuen Edition Mercator bei C.H. Beck erschienenes Buch Sortiermaschinen – Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert für den Deutschen Sachbuchpreis 2022 nominiert ist.

Die Globalisierung und regionale oder teils weltweite Integration, so Mau, trägt dabei nicht dazu bei, Grenzen vollends abzuschaffen. Stattdessen führten manche Faktoren dazu, dass sie eine neue Natur bekämen, sich in ihrer Funktion, aber auch ihrer Ausgestaltung vielfältig wandelten. Von „Fortifizierung“ und der „Festung Europa“ war und ist vielfach die Rede, von Digitalisierung und „Smart Borders“und natürlich behandelt Mau diese Aspekte in Sortiermaschinen ausführlich. Dabei fokussiert er sich bewusst auf die Mobilität von Menschen und lässt andere Ströme – Kapital, Waren, etc. – weitgehend unberücksichtigt.

Grenzen sortieren – aber nach welchen Kriterien?

Daneben geht es allgemein um die trennende Funktion von Grenzen. Sie dienen seiner Einschätzung nach vor allem dazu, gewisse Bewegungsströme zu sortieren: Erwünschte Ströme – beispielsweise Fachkräftemigration – würden aus dieser nicht von der Hand zu weisenden Perspektive gefördert, während weniger erwünschte Ströme – illegale Migration zum Beispiel – ausgebremst werden sollten. Grenzen dienen als „Sortiermaschinen“ dazu, diese Filterfunktion nach politisch und gesellschaftlich gewollten Kriterien vorzunehmen.

Manche mögen dies als Diskriminierung bezeichnen und haben damit vollends recht. Die Frage ist nur, wie diese Diskriminierung aufgefasst wird. Hat sie eine Basis, die beispielsweise rassistischer Natur ist? Dann ist sie aller Wahrscheinlichkeit nach menschenverachtend, denn die so genannte „Rasse“ sollte kein Kriterium sein, das im 21. Jahrhundert noch einer gesellschaftlichen Geltung bedarf (leider ist das viel zu häufig dennoch der Fall).

Oder ist die Diskriminierung rein utilitaristischer Natur? Das wäre dann der Fall, wenn beispielsweise an den Grenzen nach Bildungsgrad, Qualifikation oder Alter selektiert wird. Auch dann stellt sich zwar die Frage, ob dies die Menschen nicht über Gebühr objektifiziert, aber wie sagte bereits der frühere Bundespräsident Joachim Gauck anlässlich der Flüchtlingsproblematik im Jahr 2015: „Unser Herz ist groß, aber unsere Möglichkeiten, sie sind endlich.“

Grenzen der Abgrenzung?

Natürlich zeigt sich an dieser Stelle, die auch Mau in seinem Buch identifiziert, ein vom Kapitalismus geprägtes System und von politisch und gesellschaftlich linker Seite dürfte auch dieses kaum Zustimmung finden. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Kapitalismus auch für unseren heutigen Wohlstand verantwortlich ist und Gegenmodelle – Sozialismus – bereits klar gescheitert sind (was selbstverständlich nicht darüber hinwegtäuschen darf, dass auch ungeregelter Turbokapitalismus wie im Russland der 1990er-Jahre keine adäquate Wirtschaftsform darstellen kann).

Steffen Mau greift all diese Punkte in seinem Debattenband auf. Er geht weiter, er illustriert die vielen Fortentwicklungen, denen Grenzen heute unterworfen sind und aufgrund derer sich ihre Natur im 21. Jahrhundert ändert, nicht zuletzt um die Sortierfunktion weiter zu verbessern. Eine räumliche und zeitliche Ausdehnung durch vorgelagerte Grenzkontrollen, Selbstkontrollen und die Vorabbereitstellung durch Daten, die Privatisierung von Grenztätigkeiten beispielsweise durch Fluglinien – all diese Punkte finden in seinem Buch Platz und erweitern das Spektrum, aus dem er Grenzen im 21. Jahrhundert betrachtet. Und selbstverständlich dürfen mittlerweile auch gesundheitliche Sortierparameter – Stichwort: Corona – heute nicht mehr fehlen.

Ein wichtiger Debattenbeitrag

Die neue Reihe Edition Mercator bei C.H. Beck, die der Verlag gemeinsam mit der Stiftung Mercator auflegt und zwischenzeitlich weitere Bände umfasst, hat sich zum Ziel gesetzt, Themen in die aktuelle gesellschaftliche Debatte zu heben und neue Aspekte einzubringen. Mit Steffen Maus Band Sortiermaschinen ist der Reihe ein guter Auftakt gelungen (ebenfalls in der ersten Edition erschienen ist Was soll zurück? Die Restitution von Kulturgütern im Zeitalter der Nostalgie von Sophie Schönberger, das wir bald besprechen). Er wirft wichtige Fragen auf, widerlegt nachvollziehbar die These, dass die Globalisierung zu einer Abschaffung von Grenzen führe und bringt manch durchaus streitbaren Gedanken in seine Argumentation ein.

Dabei verlässt er allerdings nicht ein gebotenes akademisches Niveau, weder inhaltlich, noch sprachlich. Sortiermaschinen ist ein stark wissenschaftlich geprägtes, kurzes Buch, das aber eine große Menge an inhaltlich wertvollen Gedanken beherbergt. Nicht allem werden sich die Leserinnen und Leser anschließen, aber auf analytischer Ebene leistet Steffen Mau sehr gute Arbeit. 

Das Buch ist in diesem Jahr aus gutem Grund für den Deutschen Sachbuchpreis nominiert. Auch wenn es keine Lektüre ist, die vor dem Zubettgehen die nötige Entspannung verspricht, ist der Jurybegründung, dass Mau empirisch fundiert und stilistisch schnörkellos die Grenzen unserer globalen Gegenwart analysiere und dabei so manche Illusion einer grenzenlosen Welt zerstöre, eigentlich kaum etwas hinzuzufügen. Hätte es sein Buch bereits 2012 gegeben, es wäre wohl eine ideale Quelle für die Recherchen und Argumentation meiner Hausarbeit gewesen, so ist Sortiermaschinen eine wichtige Analyse für die heutigen Studierenden inner- und außerhalb der Hörsäle der Republik.

HMS

Eine Leseprobe findet ihr hier.

Steffen Mau: Sortiermaschinen. Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert; 2. Auflage, 2021; Klappenbroschur; 189 Seiten, 5 Abbildungen; ISBN: 978-3-406-77570-3; C.H. Beck Verlag; 14,95 €; auch als eBook

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