Brauchen wir Heimat?

Barbara Cassin geht in ihrem Essay „Nostalgie. Wann sind wir wirklich zuhause?“ dieser Frage nach und kommt zu einer verblüffenden Antwort.

Von Nora Eckert

In Frankreich ist sie eine bekannte Philosophin, bei uns dürfte sie eher ein Geheimtipp sein. Cassin ist promovierte Altphilologin und Expertin in Fragen antiker Literatur, und von da ist es nur ein winziger Schritt hin zur Philosophie, die in unserer westlichen Ausprägung bekanntlich ihre Wurzeln in der griechischen Antike hat – Aristoteles, Platon und Sokrates seien als die prominentesten stellvertretend für all jene genannt, die ihre Spuren im europäischen Denken hinterlassen haben.

Wie uns Cassins Essay zu verstehen gibt, hat uns die Antike auch heute noch eine Menge zu sagen und so richtet sie ihren Blick nicht nur auf Hannah Arendt als Zeugin des von Flucht und Vertreibung geprägten 20. Jahrhunderts, sondern auch auf Homers „Odyssee“ und auf Vergils „Aeneis“. Was dabei herauskommt, ist höchst spannend und in Zeiten von Fluchtbewegungen im globalen Maßstab und von Exil und Migration zudem brisant.

Sowohl der Begriff Nostalgie als auch der der Heimat ist längst auch ideologisch kontaminiert. Nostalgie enthält zudem den Klang von weltfremder Schwärmerei und galt ursprünglich einmal für eine Krankheit namens Heimweh, während Heimat zwar für eine stets wiederkehrende menschliche Sehnsucht steht, die sich jedoch leicht politisch instrumentalisieren ließ, vor allem dann, wenn es darum geht, die Anderen und das Andere auszugrenzen, wenn sich also Heimat mit Xenophobie vermischt. Solche „Begriffsgeschichten“ schwingen natürlich mit, aber wie uns Cassin wissen lässt, steht die Sehnsucht nach Heimat für eine über die Zeiten hinweg wirkmächtige menschliche Disposition.

Was von Cassin bisher in deutscher Übersetzung erschien, hat wohl eher ein Fachpublikum erreicht. Es sind zwei schmale Bände, die sie gemeinsam mit dem Philosophen Alain Badiou herausgab. Der eine ist Jacques Lacan gewidmet und behandelt die Frage nach dem Wissen und seinem Verhältnis zur Sprache unter dem seltsamen Titel „Es gibt keinen Geschlechtsverkehr“, während der andere Martin Heidegger kritisch in den Fokus rückt, inmitten eines gedanklichen Dreiecks mit den Eckpunkten Nationalsozialismus, Frauen und Philosophie. Das Komplizierte an Heidegger ist, dass er tatsächlich ein gewöhnlicher Nazi war und gleichzeitig einer der wichtigsten Philosophen des vorigen Jahrhunderts. Mit dem im letzten Jahr in deutscher Übersetzung von Christine Pries im Suhrkamp Verlag erschienenen Essay Nostalgie (im Original bereits 2013) dürfte Cassin wohl ein größeres Lesepublikum ansprechen, obschon intellektuell auf hohem Niveau. Denn nicht nur passt das Thema in die Zeit, der Essay ist zudem von einer bewundernswerten sprachlichen Eloquenz und einer beeindruckenden argumentativen Klarheit.

Cassins Antworten verblüffen und öffnen einen Weg hin zu menschlichem Pluralismus mit einer Neudefinition von Heimat. Ausgehend von Odysseus‘ Irrfahrt, die ihn nach vielen Jahren auf seine Insel Ithaka zurückbringt, um danach sogleich wieder in die Welt hinauszuziehen. Odysseus erkennt seine Heimat zunächst nicht wieder und tut es erst in dem Augenblick, wo andere ihn erkennen. Die eigene Insel erkennt man, „weil man dort eine Identität besitzt“, so Cassins Schlussfolgerung.

Die Heimkehr ist aber nur ein Aspekt in dieser Geschichte, weitreichender ist der von Verwurzelung und Entwurzelung. Genau hier spürt die Autorin den Kern von Nostalgie auf, um auf Irrfahrt und Heimkehr gleichsam aktualisierend mit Flucht und Exil zu antworten, den Themen in Vergils Dichtung „Aeneis“. Aeneas flieht aus dem brennenden Troja und findet sich in einem Land wieder, das wir heute Italien nennen. Dort wird er eine neue Heimat gründen, die durch seine familiäre Herkunft zugleich eine alte ist. Im Exil wird Herkunft zu einer Frage der Gewohnheit oder in den Worten Cassins: „Herkunft lässt einen Tanz auf allen Hochzeiten zu“. Freilich verlangt das Exil auch die Aufgabe der Muttersprache – deren Denaturalisierung erscheint unausweichlich. Zugleich schaffe man sich durch die Sprache der Anderen eine neue Heimat.

An diesem Punkt, nämlich bei der Bedeutung der Sprache, ruft nun Cassin Hannah Arendt als Zeugin auf in der Verhandlung um die Frage „Wann sind wir wirklich zuhause?“ Doch bevor Arendt zu Wort kommt, verweist Cassin auf den Philosophen Hegel, der sich im Geist zuhause fühlte: „Der Geist ist es, der reich macht. Er begleitet uns in die Verbannung, und […] in [die] rauhesten Einöden.“ Was nichts anderes bedeutet, als dass wir in unserem Denken überall zuhause sein können. Etwas Ähnliches meinte auch Ernst Bloch, als er erklärte, Heimat sei für ihn der Ort des Denkens.

Auf die Frage, was ihr im Exil geblieben sei, antwortete Hannah Arendt: die deutsche Sprache als Muttersprache. Entscheidend ist jedoch, wie sie dabei Sprache und Volk entkoppelt, denn es geht ihr keineswegs um das Deutschsein, dafür um so mehr um die Vertrautheit, die ihr die Muttersprache gibt. Dazu gehöre „die Ursprünglichkeit der Reaktionen, die Einfachheit der Gebärden und der ungezwungene Ausdruck von Gefühlen“, wie Cassin erklärt. Andererseits ist Sprache ja nichts, was einem gehört, niemand kann die Sprache besitzen. Wir teilen sie mit anderen, und vor allem sind Sprachen grundsätzlich erlernbar. Aus dieser Erlernbarkeit wiederum ergibt sich das Bewusstsein einer „schwankenden Vieldeutigkeit“ bis hin zur Erfahrung des Unübersetzbaren. Arendts Emigration, die sie zunächst nach Frankreich und über Portugal in die USA führte, war eine Flucht vor den Nazis, aber sie wollte – wie viele andere auch – nicht als Flüchtling, als Geflüchtete angesprochen werden, sondern als eine Neuangekommene, die das Französische ebenso beherrschte, wie sie schon bald danach anfing, auf Englisch zu schreiben und zu sprechen.

Genau darin sah Arendt den Gewinn, dass nämlich zur Pluralität des Menschen die Pluralität der Sprachen gehöre. Und so werden aus Verwurzelungen am Ende „schwimmende Wurzeln“. Cassin zieht daraus das Resümee:

„Ich neige also zu der Annahme, dass Odysseen uns lehren, dass man nicht ‚dort‘ bleibt, das heißt, dass man niemals ‚da ist‘, bei sich zuhause. Eher als die Wurzeln würde ich das Anderswo pflegen, eine sich nicht abschottende Welt voller unterschiedlicher ‚Mitmenschen‘, die einem ähneln und nicht ähneln.

Wann sind wir wirklich zuhause? Wenn wir selbst, unsere Nächsten und unsere Sprache bzw. Sprachen willkommen sind.“

Aus: Barbara Cassin, „Nostalgie“

Nora Eckert ist Publizistin und Ausführender Vorstand bei TransInterQueer e. V.

Eine Leseprobe findet ihr hier.

Barbara Cassin: Nostalgie – Wann sind wir wirklich zuhause?; Aus dem Französischen von Christine Pries; November 2021; Fester Einband mit Schutzumschlag; 142 Seiten; ISBN: 978-3-518-58770-6; Suhrkamp Wissenschaft; 22,00 €; auch als eBook erhältlich

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