Deutschland und Argentinien – zwei Länder, die kaum unterschiedlicher sein könnten, aber dennoch einiges gemeinsam haben. Nehmen wir einmal Fußball: 2014 war Argentinien der Endgegner Deutschlands bei der Fußball-Weltmeisterschaft der Männer – das Ergebnis ist bekannt. Gleichzeitig ist vielen Älteren vermutlich die „Schmach von Córdoba“ aus dem Jahr 1978 noch ein Begriff, als der amtierende Weltmeister Deutschland bei dem Turnier in Argentinien gegen die Fußballmacht Österreich verlor und dadurch beide Teams ausschieden.
Fußball, aber noch vieles mehr, definiert die Beziehung und Perspektive beider Länder mit- und aufeinander. In jenes genannte Córdoba kehrt Nacha Vollenweider aus ihrer Wahlheimat Hamburg zurück und illustriert diesen Rückkehrprozess in einer Graphic Novel, die unter dem sehr griffigen Titel Zurück in die Heimat im Juni im avant-verlag erschienen ist.
Ich in Episoden
Ähnlich wie beispielsweise KATAPULT-Gründer Benjamin Fredrich arbeitet auch Vollenweider in ihrem Buch eine Episode des eigenen Lebens mittels gleichnamiger Figur auf. Nachdem die Ehe mit ihrer Partnerin Chini während eines Besuchs bei letzterer in Brasilien zerbrochen war, entschied Vollenweider – vermutlich nicht ganz freiwillig – zurück nach Argentinien zu gehen.
Wir begleiten sie auf verschiedenen Episoden: Zurück in Córdoba im einleitenden und im Schlussteil, in Brasilien mit ihrer Noch-Partnerin, allein in Hamburg, sich von ihrer deutschen Heimat verabschiedend. Aber auch in ihrer „Anfangszeit“ zurück in Argentinien: zuerst in dem kleinen Haus ihrer Mutter, anschließend bei ihrer Großmutter und schließlich auf einer Reise durch Argentinien und Chile gemeinsam mit Simon, einem Bekannten aus der Schweiz. In fünf Kapiteln zuzüglich Einleitung und Schluss nimmt uns Novel-Nacha also mit durch verschiedene Episoden ihrer Rückkehr.
Mein Zuhause
Auf gerade einmal 200 durchgehend in Schwarz-Weiß illustrierten Seiten begeben wir uns mit ihr auf einen Ritt durch vielerlei Themen. Von hoher Inflation, Diktatur-Aufarbeitung über Klimawandel und soziale Verwerfungen ist dabei thematisch sehr vieles dabei, was uns im Übrigen auch hierzulande derzeit bewegt. Argentinien ist seit Jahrzehnten von teils galoppierender Inflation und Wirtschaftskrisen geplagt und hat eine veritable Nazi– und –Diktatur-Vergangenheit. Und dennoch ist dieses zweigrößte Land Südamerikas Heimat für viele Menschen und Tiere, eben nun auch wieder Novel-Nacha.
Denn, wie liest mensch häufig: Heimat ist kein Ort, Heimat ist ein Gefühl. Deshalb ist es umso folgerichtiger, dass wir auch an Novel-Nachas Gefühlswelt teilhaben. Die Trennung von ihrer Frau nimmt sie nachvollziehbarerweise ziemlich mit, ebenso wie die Tatsache, dass sie mit ihrer Großmutter nicht offen über ihre Homosexualität sprechen kann. Und dennoch führen die beiden ein anregendes Gespräch über die Perón-Dikatur (natürlich darf Evita nicht fehlen), über die damaligen – und noch heute bestehenden – gesellschaftlichen Fronten und somit eben doch über Nachas Heimat. Soziale Ungleichheiten innerhalb Argentiniens sowie zwischen Globalem Norden und Süden werden selbstverständlich auch thematisiert.
Bin ich hier zu Hause?
In Deutschland nämlich, konnte sie nie richtig heimisch werden, wurde immer als „die Argentinierin“ gesehen. Zurück in Córdoba ist sie zwar froh über das bessere Wetter, die Gelassenheit der Menschen oder manch andere Kleinigkeit – aber dennoch ist ihr auch diese Heimat offenbar ein wenig fremdgeworden. Und auch hier scheint sie nicht unbedingt von allen wieder aufgenommen zu werden – schließlich hat sie es „im Westen“ nicht geschafft.
Es gibt so viele Gefühle und Erlebnisse, denen sich Novel-Nacha nach Trennung und Rückkehr stellen muss und nicht alle dürften sie positiv berühren. Dass sie beispielsweise herausfindet, dass auch ihre Vorfahren wohl eine Nazi-Vergangenheit zu haben scheinen, wirft sie verständlicherweise aus der Bahn – in ihrer argentinischen Familie hingegen interessiert sich jedoch kaum jemand dafür – ebenso wenig, wie viele von uns hierzulande kaum interessieren dürfte, dass die argentinische Pampa durch den Abbau von Lithium für unsere Energiewende zu Mondlandschaften downgecycelt wird.
Fluch und Segen
Es ist also sowohl thematisch als auch auf Gefühlsebene viel los in dieser Graphic Novel. Das ist Fluch und Segen zugleich. Es ist natürlich mehr als erfreulich, dass wir mit der Figur mitleiden, dabei vieles über Argentinien und die Lebensumstände dort erfahren und zugleich in den Zeichnungen Vollenweiders die schützenswerte Natur und manch pittoreske Landschaft dieses weiten Landes erahnen können. Und wir freuen uns auch sehr, dass wir so viele Themen in gerade einmal 200 Seiten präsentiert bekommen, die uns zweifelsfrei zum Nachdenken anregen sollen.
Gleichzeitig kann gerade diese Vielfalt aber auch als Schwäche gesehen werden. Die Inflation beispielsweise wird auf den ersten Seiten angesprochen, danach aber höchstens noch implizit. Oder Klimawandel und Naturschutz: Wir freuen uns sehr, dass diese Probleme gegen Ende Einzug in die Graphic Novel finden konnten. Aber auch das eben nur punktuell an einer oder zwei Stellen. Vollenweider schlägt den Bogen von einem Thema zum nächsten, kann so viele verschiedene Themen behandeln und abhaken, aber leider birgt das auch die Gefahr, dass wir so manches davon schnell wieder vergessen haben.
Zwei Themen allerdings ziehen sich neben der Trennung von ihrer Ex-Partnerin doch über große Strecken: die Homosexualität, die sie in ihrer Familie nur bedingt offen leben kann und die Auseinandersetzung mit der Diktaturvergangenheit. Während die Konfrontation mit der Vergangenheit der eigenen Familie leider eher etwas gezwungen wirkt, ist gerade die Aufarbeitung der argentinischen Militärdiktatur – soweit dies im Rahmen einer Graphic Novel erwartet werden kann – durchaus fundiert und bestimmt den Ton und Verlauf des Buchs auf positive Weise.
Fiesta Argentina
Zusammenfassend bleibt also zu sagen, dass sich Nacha Vollenweider in ihrer zweiten Graphic Novel Zurück in die Heimat zwar sehr viel vorgenommen hat, viele Punkte anspricht, vielleicht auch ein bisschen zu viele. Aber gleichzeitig zeigt sie uns einerseits eine Persönlichkeit, die zwischen Deutschland und Argentinien, ihrer alten und neuen Heimat, ihrer Ex-Partnerin und ihrer Zukunft, hin- und hergerissen ist.
Diesen Konflikt macht Vollenweider andererseits sehr gut auf und nimmt uns Leserinnen und Leser mit auf eine Reise durch ein wunderbares Land, in wunderbaren Zeichnungen, in dem aber vieles gar nicht so wunderbar ist. Davon zeigt sie uns viel, manchmal vielleicht ein wenig zu viel, sodass wir von der Fülle der Themen, die mal so en passant eingestreut werden, vielleicht ein, zwei weniger und dafür tiefer vertragen hätten. Und dennoch fühlen wir uns von Zurück in die Heimat einerseits gut unterhalten, andererseits aber auch wieder etwas schlauer und offener durch den Alltag gehend wieder.
HMS
Nacha Vollenweider: Zurück in die Heimat; Juni 2022; Softcover; 200 Seiten, schwarz.weiß; Format: 17 x 23 cm; ISBN: 978-3-96445-072-2; avant-verlag; 22,00 €
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