Coming-of-Age-Geschichte in den Fremden

Beitragsbild: Im Hintergrund des Buchcovers sehen wir links eine Luftansicht der Independence Avenue in Accra, Ghana (Foto: Kwame Kwegyir-Addo/Getty Images via Canva); in der Mitte eine Haussiedlung die exemplarisch für die Kleinstadwelt steht in der Maya anfangs zu Hause ist (Foto: Ingrid_Hendriksen/Getty Images); rechts Londoner Dächer im Regen (Eachat/Getty Images).

Den meisten von uns dürfte es schwerfallen nachzuvollziehen, wie es sich anfühlt, entwurzelt zu werden, seiner Heimat den Rücken zu kehren, kehren zu müssen, in eine völlig andere Umgebung zu kommen. In eine Welt, die jemanden als eigenartig, fremd, nicht zugehörig und bisweilen exotischen Störfaktor empfindet. Wir Glücklichen, oft auch Ignoranten. Die in Deutschland geborene und aufgewachsene Enkelin des Königs der ghanaischen Region Akyem Abuakwa Nana Oforiatta Ayim hat mit Wir Gotteskinder einen von ihrer eigenen Familiengeschichte inspirierten, sehr prosaischen Roman geschrieben, der genau jene biografische, räumliche wie auch gedankliche Zerrissenheit beschreibt. 

Episoden eines jungen Lebens

Durch die Geschichte führt uns Maya Mensah, die Tochter eines Arztes und Intellektuellen, und von Yaa, ihrer lebensbejahenden, aufgedrehten Mutter, die von der königlichen Familie Ghanas abstammt, jedoch nach der Machtergreifung Kwame Nkrumahs das Land verlassen musste. Nun leben die drei in den 1980er-Jahren im Exil in einer sehr biederen Kleinstadt in West-Deutschland in der Nähe Bonns, dem Atlantis der BRD, wie Werner Blessing es nennt. Maya wird für ihr vermeintliches Anderssein und ihre Geschichten mal mit Faszination, aber auch mit Spott und Ablehnung begegnet. Ihre sehr gegensätzlichen Eltern sind dem eher stillen, sich in Bücher und Filmwelten flüchtenden Mädchen auch nur bedingt eine Hilfe. Ihr Vater meint, Nichtwissen und Bescheidenheit seien die Schlüssel zu einer gesicherten Existenz für seine Tochter, ihre Mutter sieht das natur- und herkunftsgemäß ein wenig anders.

Schließlich taucht ihr Cousin Kojo als eine Art Weihnachtsüberraschung („Das war meine Überraschung? Ein neugieriger Junge?“) auf, der nicht nur in seinem nach außen getragenen Verhalten das komplette Gegenteil Mayas ist, sondern sie, die Ghana als Kleinkind verlassen musste, auch mit seinen lebhaften, mythisch angehauchten und bedachten Geschichten über ihr gemeinsames Heimatland versorgt. Eine wichtige Rolle spielt hier das noch aufzutreibende „Buch der Geschichten“. Die Geschichten ihres Cousins helfen ihr, sich in die Geschichte ihres Landes einzuordnen, ihren Platz in der Familie auszutarieren und ihren Weg zu finden, jedoch nicht ohne Schlenker.

Insbesondere im ersten Drittel des in fünf, beziehungsweise mit Anhang sechs Teile gegliederten Buches vermittelt uns Nana Oforiatta Ayim über Maya, wie es sich anfühlt, als fremd wahrgenommen zu werden, das ihr selbst Fremde nicht recht einordnen zu können, die Codes, wie sie es oft nennt, verstehen, lernen und sich aneignen zu müssen. Um vielleicht dazuzugehören, um etwas zu werden, um sich zu behaupten. Dies geschieht mal unterhaltsam augenzwinkernd und mal fein formuliert bitter. Im Laufe der Erzählung, auch mit Mayas zunehmendem Alter, verändert sich die Erzählung hin zu einer Aufarbeitung des Kolonialismus und des damit verbundenen Traumas und der Bewältigung desselben sowie dem Widerstand gegen „koloniale Komplexe“. 

Vor sich hinrottende Kultur

Es ist dabei wahnsinnig spannend zu beobachten, wie Nana Oforiatta Ayim in ihrer Geschichte den Leser*innen sowohl die ghanaische Kultur- und Lebenswelt näher bringt, aber auch einen sehr west-deutschen Blick, insbesondere auf die Zeit eben der 80er- und 90er-Jahre hat, sie schließlich im verheißungsvollen England angekommen, nicht nur wieder anders auf ihre ghanaische Heimat, das Mutterland, sondern auch auf das nun fehlende Deutschland, die irgendwie zweite Heimat, blickt, und England ganz speziell im Vergleich der englischen mit der russischen Literatur betrachtet. Für die buchverliebte Maya durchaus eine nachvollziehbare Betrachtungsweise.

Überhaupt spielen Bücher, Filme und auch die Kunst eine wesentliche Rolle in Wir Gotteskinder. In Verbindung mit den im „Buch der Geschichten“ erzählten Geschichten geht es vor allem auch um Raubkunst und eine plakative Zurschaustellung der genommenen Kulturgüter, die teils aber auch in „Verliesen von Museen, von Sammlern“ vor sich hin rotten und einer plumpen Nicht-Erklärung der damit verbundenen Kultur und Spiritualität, sowie der Inbesitznahme ohne ein Konzept durch Kolonialisten und überhaupt die Westeuropäer. Später geht es um die Darstellung in der Fotokunst, was sich wie eine gut reflektierte Groteske liest und nach einem Moment des bedächtigen Lachens wird uns weißen Leser*innen klar, dass durchaus auch wir gemeint sind. Hoppala.

Aimé Césaire und die Négritude bleiben in Wir Gotteskinder nicht unerwähnt.

Dass Kunst und Kultur den Anker der Geschichten bilden, ist nur folgerichtig, da die inzwischen in Accra, Ghana, lebende Nana Oforiatta Ayim vor allem auch Kunsthistorikerin ist, Afrikanische Kunstgeschichte und Politikwissenschaft studiert hat und auf der 2019er-Biennale von Venedig den ghanaischen Pavillon verantwortete. Außerdem, und das fügt sich fantastisch zum Buch, hat sie das ANO Institute of Arts and Knowledge gegründet, das unter anderem die erste Enzyklopädie der afrikanischen Kultur angestoßen hat. So können wir Leser*innen uns durchaus gut vorstellen, wie viel Nana Oforiatta Ayim in Maya Mensah steckt, vor allem im fünften Teil der Geschichte mag es sich um eine Autofiktion handeln. 

Die Geschichten der Emotionen

Zuerst einmal aber ist Maya ein junges Mädchen, das sowohl zurückhaltend, verunsichert und ängstlich, aber auch intelligenter, reflektierter und abwartender als ihre Altersgenossinnen ist. Zumindest müssen wir das so annehmen, da wir „nur“ erfahren, was in Mayas Kopf vor sich geht. Die Haltung und möglichen hintergründigen Motive und stillen Gedankengänge aller anderen bekommen wir schließlich lediglich in Form von Mayas Interpretation geschildert. Das ist auch insbesondere mit Blick auf ihre Mutter Yaa faszinierend zu lesen: Auf der einen Seite ist sie diese laute, dramatisch aufdrehende und alles überstrahlende Frau, von der Maya sich nicht nur einmal wünscht, sie würde sich zurücknehmen, still sein, nicht alle anderen in den Schatten stellen, die sie sogar mal als Scheusal bezeichnet. Doch was sie antreibt ist für Maya häufig erst verzögert ersichtlich, sehen wir mal von ihrem von ihr eingeforderten Geburtsrecht ab. Auch wenn Yaas Ausbrüche einmal echt und nicht Teil eines exaltierten Gehabes sind, ist die nahezu erschütterte Ungläubigkeit Mayas interessant zu verfolgen. 

Wie sich das Buch überhaupt durch seine abrupten Stimmungswechsel wie ein recht rasanter Trip durch allerlei mögliche emotionale Stufen, Lebensphasen und Unberechenbarkeiten liest, jedoch ohne dabei die eigene Geschichte, die Geschichte in der Geschichte und die Entwicklung selbiger, wie auch der Charaktere zu vergessen. Ganz im Gegenteil. Die Beschreibung der Gefühle und der Wahrnehmung derer von anderen Personen ist wesentlicher Handlungstreiber. 

„Das Buch der Geschichten“, was letztlich Anstoßpunkt für Kojos Aktivitäten und Mayas tiefe Verbundenheit mit ihrem Cousin ist, funktioniert schließlich auch nur durch Emotionen, es ist quasi eine Emotionsgeschichte. Natürlich vermittelt es Geschichte, wenn eben auch eine veränderte, ergänzte und neu geschaffene Geschichte. Es muss eine Geschichte sein, die Stärke, Anspruch und Macht vermittelt, wenn auch nur im Zwischenton. So funktionieren alle Geschichten, auch die Geschichte der kolonialisierenden Engländer, wie Kojo hervorragend festhält: „Das ist nichts weiter als eine kleine beschissene Insel, die nicht einmal richtig funktioniert. Es ist ein kaltes, nasses Dritte-Welt-Land, aber sie haben uns glauben gemacht, dass sie so mächtig sind.“ Mit Blick auf die britische Monarchie kommen wir natürlich auch nicht umhin, diese Aussage mindestens doppeldeutig zu lesen.

Sprachlich furiose Turbulenzen

Mayas Mutter drückt alles, was ihr etwas bedeutet, ob im Guten oder Schlechten, mit einer enormen Emotionalität aus; Kojo ist engagiert, begeistert, entsetzt, zornig („[…] heftig und polternd und monumental […]“); Maya ist neugierig, traurig, besorgt, fröhlich, mutig, außerdem sehr sensuell und auch haptisch – ständig fährt sie mit ihren Fingern über Tapeten, Bücher, Geländer, alle möglichen Gegenstände. Die einzige Person, die wirklich in sich zurückgezogen ist und ihren Gefühlen wenn überhaupt eher in stiller Form Ausdruck verleiht, ist ihr Vater und der gilt als schwach.

Emotion ist also auch gleichzusetzen mit Stärke und Durchsetzungsvermögen und schon daher notwenig für eine Geschichte, die einen Herrschaftsanspruch und ein Befreiungsnarrativ vermitteln soll. Als Maya an einer Stelle feststellt, dass sie zwar Schmerz, aber keine Emotion spüre, geht ihr damit auch ein Stück Kampfeswille verloren, ihr Ton beginnt einen gewissen Abstand zur Erzählung zu entwickeln und konsequenterweise bleibt dies für das letzte Drittel ihrer Geschichte so. Wenn sie sich schließlich zwar, inzwischen erwachsen, mit einer gewissen Wut in der Londoner Kunstumgebung bewegt, so hat diese Wut jedoch etwas Abgeklärtes. Ihr letzter Weg im Buch ist somit zum einen die folgerichtige Weiterentwicklung ihrer Person und des Anspruchs an sich selbst, zum anderen aber auch Gegenwehr zur in ihr aufkeimenden Resignation. 

Wir Gotteskinder vereint vieles, was einen großen Roman ausmacht und dies, ohne selber besonders groß zu sein – Seitenstärke ist eben nicht alles. Die 270 Seiten vergehen wie im Fluge, nachdenklich stimmende Turbulenzen prägen dabei die Leseerfahrung, die dieses sprachlich furiose, von Dr. Reinhild Böhnke ausdrucksstark übersetzte, und eklektisch komponierte Buch zu einem lebendig-aufschlussreichen Highlight machen.

AS

Anmerkung: Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass bei aller Begeisterung für das Buch und die ghanaische Kultur immer die verheerende Situation gleichgeschlechtlich lebender und liebender Menschen in Ghana mitschwang. In der Republik Ghana ist Homosexualität verboten und erst im Februar brachte der (damals noch designierte) Informationsminister Kojo Oppong Nkrumah einen Gesetzesvorschlag ein, um die Interessenvertretung von LSBTIQ*-Anliegen und das Werben für die Legalisierung von Homosexualität ebenfalls unter Strafe zu stellen. Alles im „Interesse der öffentlichen Moral“. 

Wir Gotteskinder von Nana Oforiatta Ayim

Eine Leseprobe findet ihr hier.

Nana Oforiatta Ayim: Wir Gotteskinder; 1. Auflage, April 2021; Aus dem Englischen von Dr. Reinhild Böhnke; 272 Seiten; Hardcover, mit Schutzumschlag; ISBN: 978-3-328-60146-3; Heyne; 22,00 €; auch als eBook, 17,99 €

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