Einsturzgefährdete Männlichkeit

JJ Bola schickt in „weiter atmen“ seinen Roman-(Anti-)Helden Michael auf eine Reise zu sich selbst, die an lauter Abgründen der Hoffnungslosigkeit entlang führt und schließlich wie eine Barockoper mit einem Deus ex machina endet.

Von Nora Eckert

Michaels Entschluss steht fest: „Ich habe gekündigt. Ich nehme mein ganzes Erspartes – $ 9021 –, und wenn es aufgebraucht ist, bringe ich mich um.“ Klare Ansage: Reiseziel Tod. Er will nicht auf das Ende warten, sondern der letzte Tag soll ihn erwarten. Bis dahin hatte er als Lehrer an einer Schule in London unterrichtet. Er ist Schwarz, das Kind einer afrikanischen Einwandererfamilie. Was bringt einen Menschen, der den sozialen Aufstieg geschafft hat, geachtet ist, geliebt und begehrt wird, zu einem solchen Plan? Warum will Michael nicht mehr weiter atmen?

JJ Bola versucht es uns zu erklären, indem er Michaels Reise in und durch die USA immer wieder durch Rückblenden unterbricht, in denen wir Näheres über seine Kindheit und Jugend und über seine spätere Arbeit als Lehrer erfahren. Was ist sein Problem? Auf jeden Fall Sprachlosigkeit, Verbohrtheit und ein unerträglicher Pessimismus. Das sind zumindest die sichtbaren Symptome für ein offenbar tiefer liegendes Problem, nämlich das der Männlichkeit. Diese Vermutung hatte mir ein anderes Buch von JJ Bola nahegelegt. Es heißt Sei kann Mann. Warum Männlichkeit ein Albtraum für Jungs ist. Eine Botschaft darin lautet: Das Patriarchat ist auch ein Problem für Männer – Michael liefert dafür ein zugegeben recht extremes Exempel. Sicher indes, dass es Michael nicht gelesen hat, sonst würde er möglicherweise zu anderen Einsichten gelangen.

Männlichkeit sei nämlich auch ein Schauspiel oder auf Neudeutsch: eine Performance. Wie uns Michaels Geschichte illustriert, kann dieses Schauspiel ebenso gut von der Selbstzerstörung handeln, die als heroische Tat inszeniert wird. Denn da ist einer, der allein gegen die ganze Welt steht, gegen ihre vermeintliche Sinnlosigkeit und Ungerechtigkeit, ihre Gefühllosigkeit und Unfreiheit. Es ist gleichsam eine mythisch aufgeladene Selbstopferung. Warum allerdings Bolas Anti-Held für den Ausstieg aus dem Leben ausgerechnet einen Flug in die USA braucht und der jeweilige Kontostand ihm anzeigen soll, wie nahe der letzte Tag ist, hat sich mir nicht recht erschlossen. Gut, andere brechen in die Wildnis auf oder müssen einen Achttausender bezwingen, und ebenfalls ohne Return-Ticket.

Zum männlichen Heldenleben gehört also nicht nur das Element des Selbstzerstörerischen, sondern auch des Selbstquälerischen. Denn um Schluss zu machen mit dem Leben, braucht es kein Flugticket nach San Francisco und keine Wildnis. Genau hier aber ist der dramaturgische Haken versteckt: Vielleicht will sich Michael ja gar nicht umbringen, sondern gerettet werden? Und schon sind wir beim uralten Erlösungsmythos – auch so eine männliche Erfindung. Denn wer erlöst den Helden? Natürlich die Frau und ihre Liebe. Die Geschlechterdifferenz macht sie zwar zum vermeintlich schwachen Geschlecht, aber um den Mann zu retten, sind sie gut genug. Zur Ehrenrettung von Michael: Er ist absolut kein Macho.

Das Schauspiel hat bei Bola drei Akte, überschrieben mit Memento Mori, Das Absurde und La Belle Dame sans Merci. Es gibt darin zwei Erzählstimmen. Ein anonymer Erzähler gibt uns den Reisebericht durch die USA. Eingestreut sind immer wieder Passagen als Michaels Gedankenstimme. Das ist die Stimme des Pessimisten – hier ein paar Kostproben:

„Ich habe noch nie einen unglücklichen Touristen gesehen. Wenn man so große Freude daran hat, sein Zuhause zu verlassen, warum bleibt man dann überhaupt?“ 

„Und ich, Körper und Geist, schrecke nicht mehr vor der Vernichtung zurück. Schrecke nicht mehr vor dem Tod zurück. Ich gehe auf ihn zu, renne sogar.“

„Ja, ich will sterben. Mein Leben ist mir egal, die Welt ist mir egal.“

„Doch was ich will, bewegt sich jenseits von Wollen. Ich will nichts mehr wollen, was mich dazu gebracht zu wollen, was ich jetzt will – und das ist sterben.“

Die Wahrheit ist das jedenfalls nicht, sondern lediglich die Stimme des lebensverneinenden Heroismus. Michael – oder zumindest sein Autor – hat offenkundig zu viel Arthur Schopenhauer gelesen, der der Welt die Entsagung vom Willen predigte, aber wie noch jeder Grantler am mickrigen Leben hing.

Und dann gibt es noch die zweite Erzählstimme in dem Roman. Das Leben vor dem Abflug erzählt uns nämlich Michael selbst. Aber wir erfahren von ihm keineswegs, was ihn zu dem Entschluss bringt, außer dass ihn soziale Ungerechtigkeit, der alltägliche Rassismus, all diese Betriebsamkeit im gesellschaftlichen Leerlauf, die zwischenmenschliche Gleichgültigkeit, die Gewalt der Straße auf Schritt und Tritt verfolgen. „Wir machen die Stadt aus [gemeint ist London, N.E.], doch sie macht uns kaputt“, erklärt uns Michael, „[w]ir nehmen diese Stadt und tätowieren sie uns auf die Zungen, wohin wir auch gehen, tragen ihren Namen vor uns her wie einen Fanfarenstoß. ‚Dort komme ich her‘, sagen wir, doch die Stadt liebt uns nicht.“ 

Anstatt sich selbst gute Ratschläge zu geben, gibt er sie lieber seinem Freund Jalil –er solle im Leben nicht einfach alles so geschehen lassen, und es sei nie zu spät, das Richtige zu tun. Genau dem geht Michael konsequent aus dem Weg, indem er die Antennen für menschliche Regungen eingezogen hat. Natürlich kann das Leben wahnsinnig kompliziert sein, aber auch wieder verdammt einfach, wenn man die Augen offenhält und das Herz auf Empfang stellt.

Michael schafft es mit seinen 9000 Dollar einmal quer durch die USA vom Westen nach Osten und landet, nach allerlei bizarren Begegnungen, in New York. Als ihn dort die gnadenlose schöne Dame (La Belle Dame sans Merci), die er zuvor in Chicago in einem Bordell kennenlernte, zum Teufel jagt, und bei der er immerhin anfing, etwas wie Liebe zu spüren, landet er eines Nachts stattdessen im Central Park, wo ihm ein Obdachloser verrät: „Du willst nicht sterben. Du willst nur, dass die Hoffnungslosigkeit aufhört.“

Das Finale ist eine Art Kaskade von Eskalationsstufen. Da hilft am Ende nur noch die Macht des Autors wie eine Hand Gottes. Denn die Lebensabschiedstour, so die Erkenntnis, will das genaue Gegenteil sein. Sie wird tatsächlich zu einer Reise zum eigenen Selbst, und wer sich und dazu die richtige Wahrheit findet, sollte eigentlich im Leben landen. Der Schluss darf dennoch nicht verraten werden. Verraten werden darf jedoch, wie sehr uns die flüssige Übersetzung von Katharina Martl trotz aller Düsternis bei Laune hält und auch Spannungen sprachlich wunderbar zu vermitteln weiß.

Nora Eckert ist Publizistin, im Vorstand beim Bundesverbandes Trans* e.V. und bei TransInterQueer e. V. und Teil der Queer Media Society

JJ Bola: Weiter atmen; August 2022; Aus dem Englischen von Katharina Martl; Hardcover mit Schutzumschlag; 336 Seiten; ISBN 978-3-311-10043-0; Kampa Verlag; 24,00 €

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