„Die Welt ärgert mich.“

Es ist durchaus kein leichtes Unterfangen, etwas über ein Buch zu schreiben, zu dessen Verlauf so wenig wie möglich gesagt werden sollte, da es am ehesten Wirkung zu entfalten weiß, je weniger die Leser*innen im Vorfeld wissen. Die Kurzform im Falle von Inès Bayards zweitem Roman Steglitz, der im Herbst 2023 im Zsolnay Verlag erschienen ist, wäre: Ganz toll! Unbedingt lesen!

Das allerdings wäre, zugegeben, dann doch ein wenig zu verknappt. Wenn‘s auch umgekehrt als Verriss in Kurzform funktionieren kann.

Routine

Ein wesentlicher Handlungsteil beziehungsweise Charakterpunkt steckt dabei schon im Titel des Vignetten-Romans: Berlin-Steglitz. Hier lebt die eigenwillige Leni Müller in trauter, verlässlicher Zweisamkeit mit ihrem Mann, dem erfolgreichen Architekten Ivan. Ihr Leben ist, so weit es nach ihr geht, geprägt von festen Abläufen, standardisierten Handlungen, frei von Überraschungen, voller beruhigender Routine. Lethargie als Luxusgut.

Plötzlich aber taucht ein Kommissar namens Ziegler auf, dessen Stimme Leni wieder zu erkennen meint. Kurz danach reist ihr Mann zu seinem aktuellen Projekt auf Rügen, nach Prora. Zuvor wird Leni noch dadurch erschüttert, dass der sonst so freundliche Mann im Mini-Markt aka Späti ihres Vertrauens sie herb angeht. Eine Situation, aus der der ihr fremdgewordene Bruder Émile sie befreit. Noch ahnt sie nicht, dass sie bald noch aus ganz anderen Umständen befreit werden soll – auch gegen ihren Willen.

Lockdown

Steglitz, entstanden im ersten Lockdown, genau in diesem Ortsteil des Bezirks Steglitz-Zehlendorf, der Idylle und (Konsum-)Wahnsinn verbindet, wie Inès Bayard es im Gespräch für Zsolnay mit Bettina Wörgötter treffend beschreibt, ist ein Lockdown-Roman im besten Sinne. Angesiedelt im Dezember eines nicht genauer benannten Jahres, in jedem Fall ist Angela „Mutti“ Merkel noch Kanzlerin und die Geschäfte sind geöffnet, die Cafés gut frequentiert.

Der Lockdown steht hier für Leni, die sich in sich selbst eingeschlossen hat. Engherzig, empathielos, gleichgültig, gelangweilt, sind Zuschreibungen wie Leni sie sich jedenfalls in Bezug auf eine eher mysteriöse Begegnung selbst auferlegt. Immerhin lebt sie mit einem Mann zusammen, der der Meinung ist, dass Probleme erst entstünden, wenn man sie ausspräche. Und der von Leuten angewidert ist, die ihre Schwächen vermeintlich zur Gewohnheit werden lassen und nicht sonderlich interessiert am Zustand seiner Frau ist.

Unglück

Eher unfreiwillig muss Leni Müller ihren Schutz-Kokon verlassen. Wenn sie dies auch zu ahnen schien, fragt sie sich doch: „Welches Unglück steht mir bevor?“ Flaniert nun nicht mehr durch den – einladend zum Durchwandern beschriebenen – winterlichen Bezirk, sondern geistert beinahe durch diesen. Das Bekannte plötzlich fremd. Bedrohung womöglich überall. Doch ist das alles real? Ist dieser ominöse Kommissar Ziegler Freund oder Feind? Wer ist jener Mann, der ihr Vater zu sein scheint und was ist mit ihrer Mutter, die in einer Bar hockt, wo doch eine Arztpraxis sein sollte?

Kaum ist Leni raus aus ihrem Trott, wird ihr die Welt fremd. Menschen sind interessant, außer sie kommen ihr zu nahe. Fordern eine Interaktion ein, die über ein freundliches Nicken oder gewohnte Konversation hinausgehen. Dann fühlt Leni sich bedrängt, bekommt es mit der Angst zu tun, versteht nicht, was um sie herum geschieht. Ihr Bruder formuliert es treffend: „Du beobachtest nur von weitem das, was du sehen willst. Und wenn dir das Unheil ein bisschen zu nahe kommt, haust du ab, ohne jemandem die Hand zu reichen.“

Voyeur*innen

Leni ist komplex, kompliziert. Und wir sehen ihr dabei zu, wie sie immer weiter in eine Spirale abstrusen Abgleitens gerät. Sind dabei beinahe Voyeur*innen, ist die Erzählstimme doch eine, die immerfort auf Leni blickt. Ihre Handlungen und Gedanken manches Mal aus Sicht der Protagonistin erläutert, sie häufig aber auch beinahe lakonisch kommentiert.

Da mag an mancher Stelle der Ton kaum zum Geschehen passen. Dann wiederum sind wir noch immer in Berlin, auch wenn es Steglitz ist, das vielen hier Lebenden und Geborenen ein wenig fremd sein mag. In diesem Zusammenhang ist es ein optimaler Handlungsort. All das, was geschieht, all die Härten und die Zwielichtigkeiten, mit denen die entrückte Heldin sich konfrontiert sieht, hätten in Berlin-Mitte nur blass und im Prenzlauer Berg unwahr gewirkt. Hier, in Steglitz, funktioniert Steglitz jedoch ganz hervorragend.

Winterreise

Neben dem Ort fasziniert vor allem diese Leni, die mit einer Mischung aus Angst sowie Panik und verblüffter Abgeklärtheit wie auch Benommenheit durch die Handlung geht… wandelt? Dabei gibt es, wie angedeutet, strenggenommen keinen stringenten Handlungsverlauf in Steglitz. Der rote Faden in diesem menschlichen Drama, psychologischen Thriller und Wegweiser nicht nur durch einen Berliner Bezirk, ist im eigentlichen Sinne die Frage, was denn mit dieser Leni los ist. Wie sie wurde, wie sie ist. Welche Momente und Begegnungen real sind. Alle? Viele? Keine? Ist sie es überhaupt?

Inès Bayard, Steglitz, S. 153

Je mehr wir lesen, desto größer wird das Rätsel, desto stärker das Bedürfnis nach Antworten. Und da ist sie wieder, diese Mischung aus Voyeurismus und Anteilnehmen und plötzlich scheinen auch wir im Kopf dieser Frau zu stecken, der selber nicht so recht weiß, was Phase ist. Oder doch? Manches Mal kommen die Hinweise unvermittelt zu Leni und somit zu uns. Wenn sie etwa plötzlich Franz Schuberts „Winterreise“ hört, ein Liederzyklus in dem es um, Überraschung!, existenziellen Schmerz, Einsamkeit, Düsternis und Obrigkeitskritik geht.

Begleitung

Lange wissen wir nicht, ob Leni ein Opfer von Menschen, Umständen, Erinnerungen ist. Oder ob sie sich ihre aus der Welt gefallene Rolle in dieser Welt selbst gewählt hat. Muss sie von jemandem, aus etwas befreit werden oder ist sie es selbst, die sich in ihrer Realität und ihrem Kopf einsperrt? Ist sie quasi, um mal ein wenig plakativ zu werden, selbst die Wärterin mit dem Generalschlüssel? Geht es um Sicherheit oder Kerker, Freiheit oder Einsamkeit? Fragen über Fragen, die Inès Bayards Leni auf noch nicht einmal zweihundert Seiten aufwirft.

Einige davon können sich die geneigten Leser*innen am Ende wohl nur selbst beantworten. Steglitz ist, erneut passend zum Bezirk, ein Roman, der viele Interpretationswege kennzeichnet. Selbst dort, wo es vermeintlich so etwas wie eine Katharsis gibt, ist diese doppelbödig. Der elegant geschriebene, von Theresa Benkert gewandt übersetzte, scharf beobachtete und beobachtende Roman zieht uns schnell in seinen Bann, animiert dazu, Leni beinahe willenlos, dabei doch voller Fragezeichen zu folgen und wird uns nach Ende der Lektüre eine ganze zeitlang begleiten.

AS

PS: Das erwähnte, kurze Interview mit Inès Bayard ist zu empfehlen, spricht die 1992 in Toulouse geborene Autorin dort doch über ihre Inspirationen und Einflüsse, wie etwa Ingeborg Bachmann, Elfriede Jelinek, Heinrich Bölls Gruppenbild mit Dame, Marlen Haushofer und Arthur Schnitzlers Traumnovelle.

PPS: Beim Schreiben gehört: Franz Schuberts „Winterreise“, interpretiert von Dietrich Fischer-Dieskau und Gerald Moore, 1985. Zu finden bei Spotify.

Eine Leseprobe findet ihr hier.

Inès Bayard: Steglitz; September 2023; Aus dem Französischen von Theresa Benkert; 192 Seiten; Hardcover, gebunden mit Schutzumschlag; ISBN: 978-3-552-07359-3; Zsolnay Verlag; 22,00 €

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