Eine durchwachsene Show zum ESC-Vorentscheid mit ergreifendem Highlight kürte den verdienten deutschen Vertreter.
Nach dem durchaus vorhersehbaren Debakel in 2021 sollte es in 2022 mal wieder eine Vorentscheidung mit Publikumsvote für den Eurovision Song Contest werden. Eigentlich nur für die dritten Programme konzipiert, hat die aktuelle Situation die ARD bewogen, die vom NDR verantwortete Live Show dann doch ins Erste zu hieven.
„Reim Dich oder ich fress Dich“
In einer durchaus zum Fremdschämen geeigneten Eröffnung der Germany 12 Points betitelten Show durch die allseits beliebte Frau Schöneberger (die übrigens heute Geburtstag hat; Alles Gute an dieser Stelle) und den Comedian Bülent Ceylan, fühlten die beiden sich doch tatsächlich bewogen, alte Al Bano- und Romina Power-Schlager nach der „Reim Dich oder ich fress Dich“-Methode umgetextet und im guten alten Playback darzubieten.
Ein kurzer Smalltalk folgt mit den größtenteils üblichen verdächtigen Gästen: Thomas Hermanns, Jane Comerford („Sie erinnern sich, Texas Lightning, 2006 mit dem Hit ‚No No Never’“, sagt Frau Schöneberger, weil sich nämlich alle so gut erinnern können), die immer gern gesehene Conchita Wurst und eben Bülent Ceylan. Im Anschluss durften dann die sechs mehr oder minder unbekannten Akteur:innen einziehen. Schon seit dem 28. Februar wurden deren Songs auf den ARD Radiosendern rauf und runter gespielt, mit der Möglichkeit für die Titel abzustimmen. Diese Stimmen machen dann auch direkt 50 % des Publikums-Votings aus.
Die anderen 50 % sollte wohl der Live-Auftritt bringen und vielleicht das Rennen entscheiden.
Der nationale Halbton
Den Deutschen ließ man mit insgesamt sechs Titeln ja nun mal nicht sooo eine große Auswahl und nach einem recht ansprechenden Opener mit Malik Harris und seinen „Rockstars“ wollte man kurz hoffen… Und dann kam der zweite Act, Maël und Jonas mit „I Swear to God“ und nem VW Bulli. Schon mitten in der Nummer hat sich der Autor gewünscht, sie hätten diesen genutzt, um direkt von der Bühne zu fahren.
Eros Atomus bot seine Hymne auf das Leben „Alive“ da schon routinierter und hüpfend publikumsnah dar. Mit Emily Roberts „Soap“ haben wir direkt unseren nationalen Halbton daneben. Einen ganzen Song lang hoffte man, sie könnte es noch retten, dass sie dann auch noch ihren Text vergessen hat, schade.
Die nächste Dame, Felicia Lu, hat ihr „Anxiety“ zwar recht ESC-Tanz tauglich dargeboten, stimmlich aber leider extrem nah an Lena angelegt (oh, die gibts ja schon). Wesentlich origineller waren da schon Nico Suave und das Team Liebe mit „Hallo Welt“, deren durchaus professionellem Auftritt auch ein kleiner Texthänger keinen großen Abbruch tun konnte.
Nun nahm also die restliche Show ihren Lauf. Der sich dem Schnelldurchlauf anschließende IntervalAct mit Jane Comerford, Conchita Wurst und Gitte Haenning ließ keinen Zweifel, welch große Lieder schon Gewinner waren und nährten den Wunsch doch am Besten eine von diesen dreien zu senden. Ach warte, die stehen ja nicht zur Wahl.
Für die Unschuldigen in der Heimat
Jamala, Gewinnerin im Jahr 2016 für die Ukraine, nahm dann unser aller Herzen und zerquetschte sie, denn sie will ihre Stimme den Kindern und Frauen und den Unschuldigen des Krieges in ihrer Heimat geben. Wer bei ihrem Sieg mit ihrem Song „1944“ schon dachte, sie hätte herzzerreißend gesungen, der konnte heute sehen, wie eine starke und ungebeugte Frau ihre Geschichte und ihre Heimat in die Herzen der Zuschauer singen wollte und dem Ruf der Verzweiflung gesanglich nachkam.
Die Stille am Ende ihres Auftrittes sprach Bände, dann brandete Jubel los. Und Barbara Schöneberger zeigte einmal mehr, warum sie eine Spitzenkraft im deutschen Fernsehen ist, denn mit Empathie und einer ihr kaum zugetrauten Sanftmut führte sie das Gespräch mit Jamala, die sagte: „Mein größter Wunsch ist, dass der Krieg aufhört.“
Glitterflitterregen vs. Harndrang
Und doch musste die Show ja weitergehen. Ein rettender letzter Schnelldurchlauf und nach beendetem Countdown sollten die Gäste ihre Favoriten nennen. Der sich dabei abzeichnende Trend für „Hallo Welt“ konnte sich dann beim Voting der Radiohörer so gar nicht durchsetzen. Nahezu gleichlautend vergaben sie die Punkte über Radiodeutschland. Hier lagen tatsächlich Maël und Jonas ganz vorn. Während der Autor sie die Ausfahrt zum ESC hätte verpassen lassen, waren sie die erste Wahl der Radiohörer. Aber wieder einmal zeigte sich, dass die neue Punktevergabe vom ESC zu einem Herzschlagfinale führen kann. Und so entschied dann doch die Performance des Abends, denn durch die Punkte der Zuschauer setzte sich Malik Harris mit „Rockstars“ am Ende durch.
Einer der ersten Kommentare des frisch gekürten Siegers: „Und ich muss so pinkeln!“ Nun das musste noch warten, denn im gewohnten Glitterflitterregen durfte er seine „Rockstars“ noch einmal mit ganz viel Druck singen. Nicht nur in seinem Vorstellungsvideo konnte der Gewinner mit seiner durchaus angenehmen Ausstrahlung punkten. Bodenständig und sympathisch kam er auch in der anschließenden Pressekonferenz rüber…
Und so beendet der Autor seinen ESC Vorentscheid-Abend mit dem guten Gefühl, dass die ESC Fans die richtige Wahl für Turin getroffen haben. Dort findet am 14. Mai das ESC-Finale statt; im vergangen Jahr hatte die italienische Band Måneskin mit ihrem Song „Zitti e buoni“ gewonnen.
Frank Hebenstreit (der für the little queer review den ESC vertrauensvoll und gewohnt pointiert begleiten wird)
PS: Teile der Redaktion möchten anmerken, dass die Meinung des Autors nicht für alle gilt… Mit dem Bulli von der Bühne fahren… Pah! Unsere zwei Paradieskreaturen Fiete & Kefir werden das sicherlich ebenfalls an passender Stelle austragen.
Germany 12 Points – Der deutsche ESC-Vorentscheid 2022 ist bis zum 4. März 2023 in der ARD-Mediathek verfügbar.
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