Der erwartete Sieg der Ukraine

Sonntag, 15. Mai 2022, Tag 1 nach dem ukrainischen Sieg – beim Eurovision Song Contest (ESC) – den laut NDR hierzulande rund 7,3 Millionen Menschen gesehen haben. Die Gegenoffensive gegen Russlands Angriffskrieg läuft zwar im Osten der Ukraine, aber die europäische Solidarität hat sich in der vergangenen Nacht in einem beispiellosen Publikumsvoting zugunsten des angegriffenen Landes manifestiert.

Aber alles von vorne: Nach dem Sieg der italienischen Band Maneskin im vergangenen Jahr in Rotterdam war nun Turin der Austragungsort des diesjährigen ESC. Vierzig europäische Nationen plus Australien waren in diesem Jahr von der Partie – Russland nicht, denn es war vorab von der Teilnahme ausgeschlossen worden. 25 Beiträge haben es nach zwei Halbfinals im Lauf der vergangenen Woche in das Finale am gestrigen Abend geschafft. 

„Stefanija“ nimmt uns ein wenig mit

Im Vergleich zum Vorjahr allerdings war die Show in vielen Punkte doch eher durchwachsen. Der ukrainische Beitrag „Stefanija“ von Kalush Orchestra hat nicht unverdient gewonnen, denn mit seinen recht traditionellen Beats und einer Melange aus verschiedenen Stilen ist er auch nach mehrmaligem Hören durchaus hörenswert. Die Eingängigkeit mancher Titel aus dem recht starken Vorjahr bietet „Stefanija“ allerdings nicht – so wie übrigens die meisten der Titel aus 2022.

Bereits während de Show fiel zumindest uns auf, dass es kaum mitnehmende Titel gab. Kam der nächste Song, war der vorherige schon wieder fast vergessen und die ansonsten teils nervenden Schnelldurchläufe im anschließenden Voting-Teil erwiesen sich als äußerst hilfreich für unsere geschundenen Gehirne.

Italiens Beitrag „Brividi“ von Mahmood & Blanco landete auf Platz 6

Die zweitplatzierten Briten beispielsweise traten mit einer Art Coldplay-Light-Single von Sam Ryder an, die deutlich weniger im Kopf blieb als ihr letztjähriger- und damals vielgescholtener Beitrag „Embers“ (Platz 26 und mit null Punkten Letzter) – für den Vizetitel reichte es aber offenbar doch. Und auch die drittplatzierten Schweden – traditionell ein sehr starkes Land, nicht nur in Sachen Verteidigungsfähigkeit – mit ihrer Sängerin Cornelia Jakobs trugen mit „Hold me Closer“ einen Titel bei, den wir bereits am Morgen danach erst einmal nachschlagen mussten, so wenig überzeugend fanden wir ihn.

Spanischer Tanz ohne gesanglichen Glanz

Auch was die Bühnenshows angeht, hat der diesjährige ESC leider wenig Erinnerungspotential. Nur eine Show war in diesem Jahr wirklich überzeugend und engagiert und das war die von Spanien. Sängerin Chanel und ihr sehr heißes Tanzensemble lieferten eine wirklich ansprechende und überzeugende Leistung ab, was bei dem alles andere als elitären Song – Jennifer Lopez sei er laut deutschem Kommentator Peter Urban auch angeboten worden (offenbar hat sie abgelehnt und das nicht zu Unrecht) – auch dringend notwendig war. 

Heiße Show beim Auftritt von Spanien // © EBU Foto: Corinne Cumming

Von den europäischen Jurys sowie Zuschauerinnen und Zuschauern wurde der Auftritt zwar goutiert und landete am Ende auf Platz drei, aber vermutlich hat die Bühnenshow hier einiges herausgerissen. Andere Auftritte – Wieso überhaupt immer diese Treppe? Hat die Super Nanny das Bühnenbild entworfen? – bleiben wie gesagt kaum in Erinnerung.

Das Publikum entschied

Stichwort Voting: Das Moderationsterzett aus Laura Pausini, Alessandro Cattela und Sänger Mika hat eine relativ souveräne Leistung hingelegt, selbst wenn die Technik bei manch einer Schalte nicht so funktionierte. Die Juryvoten waren dann auch relativ nachvollziehbar – und es ist auch gut, dass die Ukraine nicht auch hier bereits einen so deutlichen Vorsprung herausarbeitete – der Song hatte dafür realistischerweise nicht genug hergegeben. Es ist recht eindeutig der Solidarität des europäischen Publikums mit seinen 439 Punkten für „Stefanija“ zu verdanken, dass dieser hohe Sieg nach Kiew geht.

Keine „stille Treppe“ – wie hier beim stimmlich starken Beitrag Aserbaidschans // © EBU Foto: Sarah Louise Bennett

Ein paar andere Publikumsvoten und somit öffentliche Abstimmungen über die Beiträge seiner europäischen Nachbarn stimmen uns aber etwas nachdenklich: Moldau beispielsweise hat – auch aus Deutschland – eine erstaunlich hohe Punktezahl von den Zuschauerinnen und Zuschauern bekommen. Vielleicht liegt das auch an der geographischen Nähe zum Kriegsgebiet, der Song Trenulețul von den bereits zum dritten Mal teilnehmenden Zdob și Zdub & Advahov Brothers war jedoch eher… skurril.

Putin-Vasallen in der Publikumsgunst

Und noch ein Votum sollte hierzulande und in ganz Europa zumindest debattiert werden: das für Serbien, denn es passt so gar nicht zu der gezeigten und gefühlten Solidarität mit der angegriffenen Ukraine. Nach dem Juryvoting auf Platz 11, sprang Serbien durch die 225 Publikumspunkte deutlich nach vorne und landete am Ende auf Platz fünf. 

Das Lied war – wie in so manchen Vorjahren – herb und feurig im Balkan-Stil, aber eben alles andere als herausragend. Wenn das Voting aber die Solidarität mit der Ukraine unterstreichen soll, dann sollten sich alle Europäerinnen und Europäer gesagt sein lassen: Serbien ist – anders als noch zu Titos Zeiten – einer von Moskaus engsten Partnern in Europa, von Putin ähnlich abhängig wie Deutschland bisher beim Erdgas, aber auch die kulturelle Nähe zum Kreml ist in Belgrad frappierend. Klar, Krieg ist Krieg und Kunst ist Kunst, aber das Gebaren Serbiens wird hierzulande viel zu wenig beleuchtet und das scheint sich gestern Abend noch einmal gezeigt zu haben. Dass es auch anders geht, hat Montenegro mit seiner Abspaltung von Serbien bewiesen (auch wenn es aus Podgorica dennoch zwölf Punkte für Serbien gab).

Und am Ende… oder auch: Die Superzahl ist die „Sechs“

Ganz am Schluss – wie könnte es anders sein – noch ein paar Zeilen zum deutschen Beitrag „Rockstars“ von Malik Harris: Anders als manche unserer Gastautoren waren wir in der Kernredaktion doch eher davon überzeugt, dass unser diesjähriger Beitrag einmal mehr eine zweistellige Platzierung mit einer 2 vornedran erreichen würde. Malik Harris’ Auftritt war am Ende dennoch solide und angesichts des – wie erwähnt – nicht phänomenal starken Feldes der Mitbewerberinnen und Mitbewerber ist Platz 25 mit sechs Punkten doch eher unverdient. 

Malik Harris – solider Auftritt und dennoch Letzter // © eurovision.tv/EBU Foto: Corinne Cumming

Aber gut, am Ende nisten wir uns in den vergangenen Jahren doch recht beständig in dieser Gegend ein, ob wir es wollen oder nicht. Die Perspektive sollte jetzt nach vorne gehen, denn wenn die Ukraine nächstes Jahr Ausrichterin des ESC wird, dürften sich viele praktische Fragen stellen: Wie steht es um den Krieg in der Ukraine? Wie kann die Sicherheit der Künstlerinnen und Künstler gewährt werden? Wo findet der Contest statt? Präsident Wolodymyr Selenskyj hat bereits angekündigt, dass „eines Tages […] ein freies, friedliches, wieder aufgebautes“ Mariupol der Austragungsort sein soll und wir wollen ihm Glauben schenken.

Der Krieg geht weiter

In den kommenden 365 Tagen fließt natürlich viel Wasser den Dnjepr hinunter, aber im schlimmsten Fall werden auch noch die Leben vieler junger Russen und Ukrainerinnen und Ukrainer – in letzterem Fall auch vieler Zivilistinnen und Zivilsten – den Weg bis dahin säumen. So gut und so wichtig der kulturelle Austausch, die gesellschaftliche symbolische Unterstützung auch ist, umso wichtiger ist es, die Ukraine auch weiterhin in ihrem Kampf gegen Putins Armee zu unterstützen. 

Ach ja, und was uns Deutsche angeht: Mit der Lieferung der berüchtigten 5 000 Helme haben wir uns ja bereits einmal zum Gespött Europas gemacht. Bitte lasst uns daher eine sorgfältige Auswahl unseres Beitrags für das nächste Jahr machen – und gebt Christine Lambrecht nicht den Steuerknüppel für die (ohnehin nur mit einer Kamera und nicht mit Waffen bestückten) Drohnenvideos (die – letzter Punkt – erstaunlich oft nur den Norden Italiens gezeigt haben, aus dem Süden jedoch nur sehr vereinzelt Impressionen lieferte – wir empfehlen Sorrent).

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Comments

  1. Unterm Strich ist es vermutlich eine Frage des Labels: Ist etwas noch ein Wettbewerb, wenn sowohl der Sieger als auch der Verlierer vorher schon feststehen? Der ESC ist seit Jahren schon viel mehr eine politische Veranstaltung als ein Musik-Wettbewerb.

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