Anlässlich des aktuellen niedersächsischen Tatorts: Die Rache an der Welt und des 30-Fälle-Jubiläums für Charlotte Lindholm sprach die NDR-Redakteurin Angela Scheele mit Maria Furtwängler über ihre Rolle, die Vergangenheit und Zukunft, fiktives und reales Grauen, die Verantwortung gegenüber der Wirklichkeit und der Fiktion, den Krieg in der Ukraine und die alltägliche Gewalt gegen Frauen.
Angela Scheele: 20 Jahre Tatort mit Maria Furtwängler als Ermittlerin Charlotte Lindholm. Hat sich seit dem ersten Fall Ihr Blick auf die Figur verändert?
Maria Furtwängler: 20 Jahre … Ich hätte das damals nie für möglich gehalten, dass ich das so lange machen werde. Aber es ist mir nie langweilig geworden. Und seit ich mein Engagement auf einen Fall im Jahr reduziert habe, freue ich mich jedes Mal, von Charlotte an die Hand genommen und in eine neue Welt, zu einem neuen Fall geführt zu werden. Das ist eine glückhafte Liaison für mich. Und natürlich habe ich mich in diesen 20 Jahren als Mensch weiterentwickelt und konnte an dieser Figur auch als Schauspielerin wachsen. Die Lindholm hat sich auch verändert.
Was ist anders?
Charlotte ist heute selbstbewusster, lässt mehr zu, öffnet sich mehr dem Leben und den Schmerzen, die das Leben mitbringt, und sie ist vielleicht auch ungeduldiger. Ihre Bereitschaft, unkonventionelle Wege zu gehen, hat sich verfestigt, und natürlich gibt es Momente der Erschöpfung und Ermüdung in diesem Beruf wegen des ganzen Elends und dem Grauen, das Menschen einander antun. Das lässt sich gut in die Figur einbauen.
„Die Zerbrechlichkeit und die Souveränität, beides gehört zusammen“
Seit langer Zeit engagieren Sie sich für eine größere Sichtbarkeit von Frauen im Fernsehen und für moderne weibliche Rollenbilder. Haben Sie diesbezüglich in den letzten Jahren auch Einfluss auf den Charakter von Lindholm genommen?
Ja, und auch die Redaktion ist sehr offen dafür. Ich gucke natürlich nicht ständig, ob das Drehbuch aus einem politisch korrekten Blickwinkel erzählt wird, aber diese Sensibilität für weibliche Rollenbilder schwingt immer mit. Bei der Lindholm wollte ich dieser Idee der starken, unantastbaren Frau, die nichts umhaut, etwas entgegensetzen. Das ist uns sehr gut gelungen, als wir in Der Fall Holdt erzählt haben, wie die Kommissarin selbst Opfer von Gewalt wird und sie das vollkommen aus der Bahn wirft. Gewalt wirkt traumatisierend und das eben auch auf eine scheinbar super toughe Kommissarin. Mich interessiert eine ambivalente, vielschichtige Frauenfigur. Man muss Stereotype durchbrechen. Die Zerbrechlichkeit und die Souveränität, beides gehört zusammen. Das ist für mich modernes Erzählen.
Charlotte Lindholm scheint vieles zu gelingen. Nur mit der Liebe klappt es nicht so recht. Woran hapert es?
Ich weiß es nicht. Die Figur hat ein Eigenleben, eine eigene Existenz jenseits von mir und diktiert uns oft, wo es lang geht. Es ist nicht so, dass ich nicht auch gesagt hätte, verdammt nochmal, die Frau ist wirklich einsam, da muss es doch irgendwann den richtigen Mann für sie geben. Aber alle Beziehungen oder Affären endeten in tragischen Varianten. Lindholm hat so viel Mist gesehen, so vieles, was dramatisch in die Hose gehen kann, dass sie sich schwer auf jemanden einlassen kann. Sie hat große Probleme, jemandem zu vertrauen. Aber Vertrauen ist die Grundbedingung für eine Beziehung. Das ist ihr Thema.
„Gewalt gegen Frauen und Femizide finden überall statt“
Welche Tatorte sind Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?
Natürlich war der erste Fall Lastrumer Mischung unglaublich aufregend, weil das mein erstes Mal als Ermittlerin beim Tatort war. Ich war noch unsicher und habe zum Beispiel immer mit „Grüß Gott“ angefangen und mit „Servus“ aufgehört – und alle haben gemerkt, die ist noch nicht so ganz im hohen Norden angekommen. Besonders nahe ging mir der Doppel-Tatort mit den Folgen Das goldene Band und Wegwerfmädchen. Ich hatte das Thema Menschenhandel und sexuelle Ausbeutung von Frauen und Mädchen damals bei der Redaktion angeregt. Schon bei den Dreharbeiten mit „echten“ Rockern herrschte nicht selten eine extreme Frauenverachtung, und ich dachte, wir brauchen gar nicht ins Ausland schauen, um uns über frauenverachtendes Verhalten aufzuregen. Es reicht aus, wenn wir bei uns gucken, denn die Zahlen sprechen für sich, wenn in Deutschland jede dritte Frau im Laufe ihres Lebens Opfer von sexualisierter oder körperlicher Gewalt wird und alle zweieinhalb Tage eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet wird.
Das ist auch Thema in diesem Tatort: Die Rache an der Welt, in dem allerdings ein Geflüchteter unter Mordverdacht steht.
Zunächst einmal glaube ich, wir müssen uns davor hüten, andere Kulturen anzuprangern, weil Gewalt gegen Frauen und Femizide überall stattfinden – so gibt es auch unter geflüchteten Menschen, die Frauen nicht respektieren und gewalttätig werden. Auch das muss erzählt werden. Das ist ein heikler und komplexer Fall, der auf einer realen Begebenheit basiert, und allen Beteiligten war bewusst, dass wir diesen Fall erzählen wollen, ohne Vorurteile zu schüren. Strukturelle Frauenverachtung ist keine Frage der Herkunft. Sie auch nicht als eine solche zu erzählen, ist eine wichtige Aufgabe. Das Thema „kriegstraumatisierte Menschen“ hat zudem ja auch durch den Krieg in der Ukraine eine traurige Aktualität erlangt und wird uns in Zukunft weiter begleiten. Im Leben und in den Geschichten, die wir diesem Leben ablauschen.
„Wir haben eine Verantwortung der Realität gegenüber“
Es gibt eine Szene, in der Lindholm ausrastet und einigen Geflüchteten explizit vorwirft, aus einer frauenfeindlichen Kultur zu kommen.
Das stimmt. Charlotte geht der Mord an der jungen Frau sehr nahe. Sie ist zwar eine hochprofessionelle Ermittlerin, aber wenn ihr dann Steine in den Weg gelegt werden, handelt sie auch mal nicht ganz so besonnen und vorsichtig, wie sie sollte. Ihre Reaktion auf dem Fußballfeld ist heftig. Dieser Fall führt sie eben an ihre emotionalen Belastungsgrenzen, und da kommen diese Pauschalisierungen an die Oberfläche. Ich würde damit aber keine Aussage verbunden sehen wollen. Ein Tatort ist kein Debattenbeitrag und keine Dokumentation. Das wäre eine Überforderung und eine Überhöhung. Wir haben eine Verantwortung der Realität und eine dem fiktiona len Erzählen gegenüber. Beiden gilt es, gerecht zu werden.
Seit 2019 ermittelt Charlotte Lindholm nicht mehr allein, sondern gemeinsam mit ihrer Kollegin Anaïs Schmitz. Was ist das Besondere an dem Frauen-Team?
Die beiden haben sehr unterschiedliche Temperamente. Und wir haben uns bewusst nicht für die klassische Buddy-Movie-Variante entschieden, also erst streiten, dann zusammenraufen und dann für immer ein Dreamteam. Es gibt immer wieder Momente von Distanz, die auf die gewonnene Nähe folgen, ich finde das sehr reiz- voll. Und Florence ist die perfekte Partnerin, um solche Nuancen im Miteinander auszuloten.
„Der Tatort ist so ein fantastisches, offenes Format“
Wie geht es jetzt weiter mit Charlotte Lindholm?
Mir macht es enorme Freude, mit dem Tatort auch mal experimenteller zu sein. Bei der Geschichte mit Udo Lindenberg haben wir das schon mal ausprobiert und Charlotte in eine ganz andere Welt geschickt. Dieses Format und seine Grenzen würde ich gerne weiter ausloten. Warum nicht mal einen Musical–Tatort machen? Der Tatort ist so ein fantastisches, offenes Format. Und Charlotte ist vielleicht auch ein bisschen offener, als sie es jetzt wissen kann. Charlotte hat gerne alles unter Kontrolle, aber richtig aufregend wird es mit ihr und für sie, wenn man ihr die Kontrolle entzieht. Singen und Tanzen sind da ein guter Anfang. Es darf aber nie um einen schnellen Gag oder Effekt gehen. Und doch heißt es auch für sie: Wer nicht wagt, der (oder die!) nicht gewinnt.
Welche Rolle spielen für Sie eigentlich die Reaktionen der Zuschauer*innen?
Ich erlebe immer wieder, dass es Menschen gibt, die eine große Zuneigung zu dieser Figur haben und sich sehr stark mit ihr identifizieren. Das sind oft Frauen in meinem Alter, ein bisschen jünger oder älter, für die Lindholm schon eine Begleiterin in ihrem Leben, eine gewisse Realität geworden ist. Das berührt mich und ermutigt mich auch, verantwortungsvoll mit der Figur umzugehen.
Interview: Angela Scheele/NDR; Bearbeitung und Aufbereitung: Redaktion the little queer review
Das Erste wiederholt Tatort: Die Rache an der Welt am 09. September 2024 um 20:15 Uhr, anschließend ist der Film sechs Monate in der ARD-Mediathek verfügbar.
Unser Schaffen für the little queer review macht neben viel Freude auch viel Arbeit. Und es kostet uns wortwörtlich Geld, denn weder Hosting noch ein Großteil der Bildnutzung oder dieses neuländische Internet sind für umme. Von unserer Arbeitstzeit ganz zu schweigen. Wenn ihr uns also neben Ideen und Feedback gern noch anderweitig unterstützen möchtet, dann könnt ihr das hier via Paypal, via hier via Ko-Fi oder durch ein Steady-Abo tun – oder ihr schaut in unseren Shop. Vielen Dank!