Blendgranate

Was tun, wenn der übermächtige Aggressor vor der Tür steht? Du weißt, dass du keine Chance hast, er wird sich nehmen, was er will. Alle wissen es. Also? Lieber kämpfen und Verletzungen und Verstümmelungen in Kauf nehmen? Oder vielleicht doch die Waffen strecken, in der Hoffnung, dass er sich zurückzieht, wenn er hat, was er will?

Die Gefahr des Appeasements

Nein, es geht nicht um das, was wir vor Putins Angriffskrieg in der Ukraine gesehen haben, selbst wenn die Parallelen frappierend sind und waren. Wir sprechen hier von einer Region einige hundert Kilometer weiter westlich: dem Sudetenland. Es war eine der ersten Regionen, die Adolf Hitler auf seinem Streifzug ins Visier nahm und ins Reich „zurückholen“ wollte. Mit dem Münchner Abkommen vom Spätsommer 1938 hat er das geschafft und zwar ohne wesentliches Blutvergießen, denn die Protagonisten um den britischen Premierminister Neville Chamberlain entschieden sich für die zweite Option: Waffen strecken und Hitler besänftigen.

George MacKay als Hugh Legat und Jannis Niewohner as Paul Hartman // Frederic Batier/Netflix © 2021

Dieses zentrale Dokument der heute als „Appeasement-Politik“ bekannten Kapitels beleuchtet der nach der gleichnamigen Romanvorlage von Robert Harris (erschienen im Heyne Verlag) entwickelte und sehr sehenswerte Netflix-Film München – Im Angesicht des Krieges. Neben Chamberlain (Jeremy Irons) und Adolf Hitler (grandios: Ulrich Matthes) stehen allerdings zwei ihrer Berater im Fokus der hier erzählten Geschichte: Paul von Hartmann (Jannis Niewöhner) als junger Diplomat im Auswärtigen Amt sowie der etwa gleichaltrige Hugh Legat (George MacKay) als Privatsekretär des britischen Premiers.

Zwei Freunde und eine Ideologie

Beide kennen sich vom gemeinsamen Studium in Oxford, waren eng befreundet. Aber die Freundschaft zerbrach wenige Jahre vorher während eines Besuchs Hughs in – passenderweise – München, als Paul in einem bayerischen Wirtshaus seine überbordende Sympathie für den an die Macht strebenden Nationalsozialismus zur Schau stellte.

Jannis Niewohner als Paul Hartman und Sandra Hüller als Helen Winter // Frederic Batier/Netflix © 2021

Wenige Jahre später hat auch Paul erkannt, welche Bedrohung von Hitler und seinen Getreuen ausgeht, weshalb er gemeinsam mit seiner Kollegin Helen Winter (Sandra Hüller) sowie einem ranghohen Wehrmachtsoffizier die Absetzung Hitlers plant. Nur darf dafür das geplante Abkommen nicht zustande kommen – das Sudetenland darf nicht friedlich an das Deutsche Reich fallen. Premierminister Chamberlain muss also mit seinem Vorhaben scheitern. Und um das zu erreichen, fädeln Paul und seine Mitstreiter ein Zusammentreffen der alten Studienfreunde ein.

Zwei Männer für ihr Land

Die Ausgangssituation von München ist also spannend und vielversprechend. Auch wenn wir die historischen Fakten kennen – das Abkommen wurde geschlossen, der „Anschluss“ des Sudetenlandes folgte, Hitler wollte aber dennoch mehr –, die in den politischen Kontext intervenierende persönliche Geschichte der beiden jungen Männer gibt der ansonsten vielleicht etwas trockenen Politik eine sehr persönliche Note.

Gerade in den Figuren Paul und Hugh finden wir die wesentlichen Attribute beider Völker wieder. Paul, der Ungestüme, versucht voller Energie und Tatendrang seine fast unerreichbare Mission zu erfüllen: Deutschland von seinem Joch zu befreien. Für Hitler waren es „die Juden“, für Paul ist es Hitler. Dabei ist der Weg zu seinem doch so sicher geglaubten Ziel mit so vielen Unwägbarkeiten des Krieges gezeichnet, dass er am Ende droht zu scheitern. Die Fokussierung auf sein Ziel lässt Paul vielleicht hin und wieder auch im Umgang mit seinen Mitmenschen über das Ziel hinausschießen.

Ganz anders sein Gegenpart, Hugh. Er ist bedacht, um Ausgleich und Beschwichtigung bemüht. Hauptsache der Frieden ist irgendwie zu retten, und sei es nur für ein paar Monate. Ob sie es wollen oder nicht, die beiden jungen Männer sind perfekte Abbilder ihrer Gesellschaften wie auch der beiden Staatsmänner, für die sie arbeiten.

Wer bist du?

Hitlers Motive und Ziele sind bekannt. Aber Chamberlain wird heute häufig als der porträtiert, der beiseitetrat und Hitler den Weg zu der Katastrophe öffnete, die er über Europa bringen sollte. Ein alter Mann mit schlechtem Urteilsvermögen. Aber sind wir doch einmal ehrlich: Wenn ein ungestümer, junger, unbekannter und vielleicht auch ein wenig unberechenbarer Diplomat vor dir steht, einem alten und erfahrenen Staatsmann, würdest du nicht selbst auch handeln wie Chamberlain?

George MacKay als Hugh Legat, Liv Lisa Fries als Lena und Jannis Niewohner als Paul Hartman // Courtesy of Netflix © 2021

Es könnte ja auch eine Falle sein. Im Krieg arbeitet der Feind mit Täuschung. Was, wenn der junge Diplomat ein Spion ist, der gerade eine falsche Fährte legen will? Versuchen will, einen Vorwand für einen größeren Konflikt zu provozieren (ein Gruß geht nach Moskau)? Leider ist das der Alltag der geheimdienstlichen Realität und auf Basis dieser um fiktionale Elemente angereicherten, in der Tat zumeist sehr spannenden, Inszenierung von Regisseur Christian Schwochow und Drehbuchautor Ben Power so ein alleiniges Urteil über den britischen Premierminister zu fällen, wird der Sache eben auch nicht gerecht.

In Summe bleibt somit festzuhalten, dass München – Im Angesicht des Krieges eine spannende und um einige fiktionale Elemente angereicherte Geschichte über ein Kapitel deutscher und europäischer Geschichte ist, derer wir uns alle gewahr sein sollten. Es gibt Situationen, in denen es besser ist, zur Seite zu treten. Manchmal muss aber seitens der Führung auch Härte bewiesen und Dispute ausgefochten werden. Einfach die Augen vor der Zukunft und den Konsequenzen kurzfristiger Entscheidungen zu verschließen, ist leider häufig nicht die Antwort. Was 2014 mit der Krim und dem Donbass passierte – und vor allem die westliche Reaktion hierauf -, ist rückblickend auch ein schwerer Fehler, den die Ukraine und ihre Bevölkerung heute ausbaden müssen.

HMS

Alex Jennings als Sir Horace Wilson und Jeremy Irons als Neville Chamberlain in München – Im Angesicht des Krieges // Sarah M. Lee/Netflix © 2021

München – Im Angesicht des Krieges; Vereinigtes Königreich 2021; Regie: Christian Schwochow, Drehbuch: Ben Power; Basierend auf dem Roman München von Robert Harris; Kamera: Frank Lamm; Musik: Isobel Waller-Bridge; Darsteller*innen: Jannis Niewöhner, George MacKay, Jeremy Irons, Ulrich Matthes, Jessica Brown Findlay, Anjli Mohindra, Alex Jennings, Sandra Hüller, Liv Lisa Fries, August Diehl, u. v. m.; Laufzeit ca. 130 Minuten; FSK: 12; seit dem 21. Januar 2022 auf Netflix verfügbar

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