Kennste einen, kennste alle?!?

Eine Flucht endet selten an einem Zielort. Selbst wer irgendwo physisch angekommen ist, wird doch zumeist weiter auf der auf der Suche sein. Und die Schrecken, vor denen er oder sie floh, sind oft auch Jahre später noch im Kopf. Ob ein Mensch dann vor Krieg, Verfolgung und Folter flieht oder „nur“ vor jemandem, der einem nachstellt, ist dabei sogar fast zweitrangig.

Kann Munir (Eidin Jalali) Jelena (Mala Emde) vertrauen? // © NDR/Christine Schroeder

Der Tatort: Die Rache an der Welt (der 30. Lindholm-Film in zwanzig Jahren) aus Göttingen illustriert so manche Flucht, die die Betroffenen nicht nur aus ihrem jeweiligen Alltag herausreißt, sondern diesen gnadenlos zerstört. Die Kommissarinnen Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) und Anaïs Schmitz (Florence Kasumba) ermitteln am Sonntagabend direkt nach der Landtagswahl in Niedersachsen in zwei sich irgendwie überlappenden Milieus – nur wie sie zusammenhängen, das ist ihnen lange ein Rätsel.

„Das ist ja auch keine europäische Tat“

In einem kleinen Waldstück an einem See findet ein Spaziergänger die Leiche der Studentin Mira. Einen jungen Mann, den er als „nicht-europäisch“ beschreibt, sieht er auf einem Fahrrad davonfahren – natürlich muss der was mit dem Tod der jungen Frau zu tun haben. Da das Mädchen aber auch in das Beuteschema eines gewissen „Wikingers“ passt, der gerade Frauen in und um Göttingen mit einem Dolch drangsaliert und zu sexuellen Handlungen zwingt, wollen und können die beiden Ermittlerinnen auch nicht ausschließen, dass er dieses Mal eben einen Dolchstich weitergegangen sein könnte als bislang.

Charlotte (Maria Furtwängler, 3.v.l.) rastet aus (mit Sascha Geršak, links) // © NDR/Christine Schroeder

Lindholm und Schmitz landen so relativ schnell in diesen beiden Milieus, dem migrantischen und dem „biodeutschen“, die beide scheinbar nichts miteinander zu tun haben. Für Schmitz ist relativ schnell klar, dass es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um den „Wikinger“ gehandelt habe, der eben nun diesen besagten Schritt weitergegangen sein muss. Lindholm hingegen ist davon nicht überzeugt und ermittelt auch im persönlichen Umfeld des Opfers. Sie landet bei Fußball in Endlosschleife und vielen Menschen, die es eigentlich gut meinen… ausgerechnet die jedoch, das wissen wir, haben es bei ihr ohnehin selten leicht.

„Jede Kultur bringt ihre eigenen Arschlöcher hervor“

Dieser Tatort ist gespickt mit Stereotypen und Abbildern unserer Gesellschaft. Natürlich sind da die Vorurteile gegenüber Flüchtlingen und Migranten. Und wie selbstverständlich ist klar, dass diese als Triebtäter unterwegs sind und „unsere Frauen“ angreifen. Dass der „Wikinger“ sich als weißer, dunkelblonder Mann mit einem Hass auf Frauen entpuppt, ach, das ist ja nicht so wichtig. Und ob gerade nach einer (natürlich erst nach Drehschluss entbrannten) Winnetou-Debatte ein gefährlich eindeutig mit Feder geschmücktes Stofftier in die Kamera präsentiert werden muss… naja… oder ist das Ironie?! 

Munir (Eidin Jalali, links), Elmo (Leonard Carow, Mitte) und Ehsan (Bagher Ahmadi) – ist einer von ihnen der Täter? // © NDR/Christine Schroeder

Dass Menschen schnell in eine Schublade gesteckt sind, ist so oder so dennoch Fakt. Ja, die Flüchtlinge sind oft nicht nur latentem Rassismus ausgesetzt, Anaïs Schmitz als Schwarze Ermittlerin leider ebenso. Gleichzeitig ist es aber auch ein Fakt, dass auch unter Flüchtlingen, Schwarzen oder anderen Minderheiten, etwa genau so viele Charakterschweine sein dürften wie unter Weißen. Daher von vornherein mögliche Ermittlungsansätze auszuschließen, ist also Unsinn bis fahrlässig, wenn es nicht die Beweise nahelegen (da loben wir uns eher abwägende Ermittlungen wie vor drei Wochen in Stuttgart) – dass Lindholm hier auf die biogeographische Herkunftsanalyse zurückgreift, sorgt natürlich für einigen Ärger.

Parallele Ermittlungswelten

So kommt es, dass Lindholm und Schmitz in diesem Fall quasi aneinander vorbei ermitteln, dabei (wie so oft) aneinandergeraten – vor allem als Lindholm Schmitz’ Ehemann Nick (Daniel Donskoy) einspannt – und wir – natürlich – wieder deutlich näher an Lindholms Fersen hängen. Das ist in Ordnung, ist sie doch in der Tat diejenige, die in dem Fall etwas mehr zu bewegen scheint und weitgefächerter an die Arbeit geht als ihre Kollegin. Richtiges Teamwork gibt es allerdings auch erst in einer Szene gegen Schluss, als ein Schlag an der richtigen Stelle sitzt.

Nick Schmitz (Daniel Donskoy) hat die Dienstregeln verletzt: Liebig (Luc Feit) muss Konsequenzen ziehen… // © NDR/Christine Schroeder

Ach ja, und die Sache mit dem „Wikinger“ scheint sich auch irgendwann von selbst erledigt zu haben. Nachdem sie anfangs sehr viel Raum einnahm und in der Tat spannend war, wäre es schön gewesen, hätten die Macherinnen und Macher des Tatort: Die Rache an der Welt um Regisseur Stefan Krohmer (Eine fremde Tochter, Polizeiruf 110: Seine Familie kann man sich nicht aussuchen) und Drehbuchautor Daniel Nocke (Eine fremde Tochter, Tatort: Borowski und die Angst der weißen Männer) diese Story noch etwas geschmeidiger in den Abschluss des Falls eingebaut. Alles in allem bietet dieser Sonntag aber halbwegs gute Unterhaltung, deckt so manch überflüssigen Alltagsrassismus auf (den mensch aber auch erst als diesen erkennen muss; hierzu gibt es jedoch mittlerweile einige sehr gute Bücher) und unterhält uns halbwegs gut.

HMS; Mitarbeit: AS

PS: Hier und hier findet ihr jeweils ein Interview mit Maria Furtwängler und Florence Kasumba zu diesem und manchen der vorhergehenden 30 Tatorte, Vorurteilen, Alltagsrassismus, sexualisierter Gewalt und manchem mehr. 

Ermittlerteam Frauke Schäfer (Susanne Bormann, links) und Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler, rechts) im waldigen Weichenstellungs-Tatort: Der Fall Holdt // © NDR/Marion von der Mehden

PPS: Für Nerds – Tatort: Die Rache an der Welt (der an einen Fall in Freiburg aus dem Jahr 2017 angelegt ist, hier verübte ein afghanischer Geflüchteter einen Mord an einer Studentin) wurde im Spätsommer 2020 gedreht, also bevor im Frühjahr 2021 der, im vergangenen Winter gezeigte, Lindholm-Lindenberg-Solo-Tatort: Alles kommt zurück gedreht wurde. Dieser wiederum nahm am Ende Bezug auf Tatort: Der Fall Holdt, dessen Ausgang sie überhaupt erst durch Strafversetzung nach Göttingen brachte. Der Fall Holdt wird anlässlich des Jubiläums am Dienstag, 11. Oktober 2022, um 22:00 Uhr im NDR gezeigt und ist in der ARD-Mediathek verfügbar, wie auch der so grausame wie durchwachsene Anschlussfilm Tatort: Das verschwundene Kind

Bild zum Drehstart von Tatort: Die Rache an der Welt – (v.l.n.r.): Patrick Orth (Kamera), Florence Kasumba, Maria Furtwängler, Stefan Krohmer (Regie) // © NDR/Christine Schroeder

Tatort: Die Rache an der Welt läuft am 9. Oktober 2022 um 20:20 Uhr im Ersten, um 21:45 Uhr auf one und ist anschließend sechs Monate in der ARD-Mediathek verfügbar.

Tatort: Die Rache an der Welt; Deutschland, 2022; Buch: Daniel Nocke; Regie: Stefan Krohmer; Kamera: Patrick Orth; Musik: Carsten Meyer; Darstell*inner: Maria Furtwängler, Florence Kasumba, Mala Emde, Sascha Alexander Geršak, Leonard Carow, Eidin Jalali, Michaela Hanser, Jogi Kaiser, Mirco Kreibich, Daniel Donskoy, Luc Feit, Jonas Minthe; Laufzeit: ca. 88 Minuten; Eine Produktion der filmpool fiction GmbH im Auftrag des Norddeutschen Rundfunks für Das Erste.

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