Eine Frage, die gern zu Beginn einer nicht selten dramatischen Rückschau gestellt wird, ist: „Wie ist es so weit gekommen?“ Nicht nur Harry und Meghan eröffnen ihre gleichnamige Netflix-Reihe mit „How did we get here?“, sondern eine Reihe von Filmen, Serien und Büchern — ob fiktional oder faktenbasiert — stellen diese in den Mittelpunkt. Manches Mal auch unausgesprochen. So etwa bei der siebenteiligen Mini-Serie von Natalie Scharf, Gestern waren wir noch Kinder, die kürzlich im ZDF zu sehen war und noch bis Jahresende in der ZDF-Mediathek verfügbar ist.
Ein Anfang mit Schrecken
Die atmosphärische, genreübergreifende Serie erzählt über drei Generationen hinweg von Trauma, Verdrängung und Sprachlosigkeit. Von einem gewaltigen Dominoeffekt, der auch die noch unschuldigsten Personen nicht unbeteiligt lässt. Teil der Frage ist auch jener nach dem Beginn eines solchen Effekts und damit geht die von Nina Wolfrum (u. a. Tatort: Wie alle anderen auch) inszenierte Serie im Grunde weiter zurück als zu den drei in Erscheinung tretenden Generationen der im Fokus stehenden Familie Klettmann.
Alles beginnt hell und fröhlich, bis die abergläubische Anna Klettmann (Maria Simon) an ihrem 44. Geburtstag vom Bilderbuch-Vater der drei Kinder und Vorzeige-Ehemann Peter (Torben Liebrecht) getötet wird. Der versucht erst gar nicht aus der Sache rauszukommen, sondern ruft selbst die Polizei. In der Untersuchungshaft jedoch schweigt er, was bei den Befragungsmethoden von Kommissarin Jana Lebowski (Anja Schneider) auch nicht wundert, denn sie scheint ihr Urteil bereits gefällt zu haben (wieso nur denken wir unweigerlich an die Kölner Tatorte?). Dafür macht er sich daran, seiner achtzehnjährigen Tochter Vivi (Julia Beautx) einen Brief zu schreiben, den er mit dem verführerischen Satz „Als ich so alt war wie Du, hatte ich schon vier Menschen auf dem Gewissen“ einleitet.
Ein Fortgang mit Desaster
Von nun an entblättert die von Scharf geschriebene Mini-Serie nach und nach verschiedene Schichten eines Thriller–Dramas, das so komplex wie im Grunde doch simpel ist. Denn schlussendlich lässt sich vieles darauf reduzieren, dass das Schweigen, dass Verdrängen, dass sich den Illusionen hingeben die schlimmstmöglichen Konsequenzen mit sich bringen kann. Da ist der eher grausame, kalte Vater Peters, Hans Klettmann (routiniert: Ulrich Tukur), der seine Frau Heide (Karoline Eichhorn) nach dem Tod der Tochter mit in den Wahnsinn und den Sohn (hier: Damian Hardung) immer mehr in die Selbstisolation treibt.
Als Peter aufgrund eines Missverständnisses auf dem Abiball sowie sicherlich unverarbeiteten Frusts über Vater, Vergangenheit und (un)mögliche Zukunft (etwas, das im Fortgang etwas zu kurz kommt) durch einen aus dem Ruder gelaufenen Streich für den Tod von vier Menschen verantwortlich ist, scheint ihn nichts mehr in der Welt zu halten. Außer womöglich die Zuwendung von Mitschülerin Anna (als Jugendliche: Rieke Seja). Mit ihr scheint Peter das wohlige Familienleben aufbauen zu können, das er selbst nie erfahren hat.
Ein Weitermachen mit Illusionen
Dass nicht nur die Vergangenheit eines Tages anklopft, sondern niemals wirklich verschwunden ist, dürfte erfahrenen Zuschauer*innen ebenso klar sein, wie es uns Gestern waren wir noch Kinder bereits im Titel verspricht. Dieser zielt aber mindestens genauso darauf ab, wie schnell mensch erwachsen werden können muss. So sieht sich das verwöhnte und nicht direkt sympathische It-Girl Vivi von einem Moment auf den anderen nicht nur dem Verlust der Eltern, sondern auch der Auseinandersetzung mit dem Jugendamt ausgesetzt, das ihre jüngeren Geschwister Daniel (super: Vico Mango) und Emmi (Nele Richter) getrennt (! — da fällt uns nur der Spruch ein: Was ist der Unterschied zwischen dem Jugend- und Finanzamt? Mit dem Jugendamt hat glücklicherweise nicht jede*r zu tun) bei Pflegefamilien unterbringen will.
Eine Stütze ist ihr der junge Polizist Tim (Julius Nitschkoff), der Mutter Anna fand, die ihm im Sterben noch auftrug, sich um ihre Kinder zu kümmern. Eine Aufgabe, der der engagierte Tim, der ebenfalls ohne Eltern aufwuchs, gern nachkommt. Dass auch hier nicht alles ganz so ist, wie es zuerst den Anschein haben mag, muss vermutlich gar nicht erst erwähnt werden.
Ein Prozess der Erkenntnis
Natalie Scharf, Tochter einer Malerin und eines Neurologen mit eigener Psychiatrie, sagt im Statement zur Serie, dass die Psyche und wie man die Kontrolle über sich selbst verliere, sie schon sehr früh beschäftigt hätten. So liegt es also nah, dass „[d]ie Idee, bei Protagonisten wie auch Nebenfiguren das Trauma und den Trigger ihrer Kindheit in den Fokus zu stellen“ sie faszinierte.
Gestern waren wir noch Kinder, das mit einem Femizid beginnt, ist dadurch auch weit mehr als ein verschachteltes Drama mit Thrillermomenten. Beinahe eine psychologische Studie, die im Lauf ihrer sieben Folgen den Fokus auf verschiedene Stufen und Menschen legt. Eingerahmt werden die Rückblenden zwar durch den Brief schreibenden Vater wie auch Vivis und Tims Geschichte, die von Influencerin und Schauspielerin Julia Beautx und dem immer gern gesehenen Julius Nitschkoff gekonnt getragen wird, doch lernen wir gut den Patriarchen Hans kennen, den jugendlichen Peter, die aber- und gutgläubige, später desillusionierte, aber auch sich selbst wieder entdeckende Anna (Maria Simon ist übrigens ein Highlight der Serie).
Ein Ende mit Beklemmung
Spannend ist dabei auch, wie Scharf und Regisseurin Wolfram wirklich eine eigene (Bild-)Sprache (Kamera: Mathias Neumann) für ihre Figuren finden, die wir über die gut fünf Stunden Laufzeit mehr als Menschen denn als Charaktere betrachten dürfen (übrigens zumeist mit Männern als den Handelnden, den Ton angebenden und den durchaus starken Frauen als auf deren Aktionen Reagierenden). Ebenso darf die Gratwanderung von Peters Erklärung wie wir hier hinkamen als geglückt gelten. Denn sie verkommt nicht zu einer Rechtfertigung der Tat, nicht zu einem „Es musste so kommen“. Torben Liebrecht spielt diese tragische Figur, die lange mit dem Anerkennen der eigenen Schuld und dem Unvermögen, sein Umfeld zu lesen, ringt, hervorragend.
Hervorragend ist es auch, wie Gestern waren wir noch Kinder zu Beginn des letzten Drittels einige Annahmen auf den Kopf stellt, es schafft, mit neuen Antworten neue Rätsel zu geben, ohne dass die Geschichte mystifiziert würde. Löblich auch, dass Natalie Scharf zum Ende hin nicht die großen Handlungs-Böller rausholt, sondern den aufgebauten Ton von Gestern waren wir noch Kinder konsequent durchzieht, um uns am Ende mit dem Gefühl neuer Sprachlosigkeit in die Welt zu entlassen.
AS
PS: Bitte eine Tracklist zur Serie (die für Depeche Mode-Fans ein Genuss sein dürfte)!
PPS: Wir sagen mal, die Mini-Serie mit Blick auf den Deutschen Fernsehpreis sowie den Grimme-Preis im Blick zu behalten, dürfte nicht ganz dümmlich sein.
Gestern waren wir noch Kinder ist noch bis zum 29. Dezember 2023 in der ZDF-Mediathek verfügbar.
Gestern waren wir noch Kinder; Deutschland 2022; Idee, Buch und Produktion: Natalie Scharf; Regie: Nina Wolfrum; Kamera: Mathias Neumann; Musik: Johannes Brandt, Dominik Giesriegl; Kostüme: Mirjam Muschel; Szenenbild: Frank Godt; Darsteller*innen: Julia Beautx, Torben Liebrecht, Damian Hardung, Julius Nitschkoff, Maria Simon, Ulrich Tukur, Karoline Eichhorn, Milena Tscharntke, Rieke Seja, Vico Mango, Nele Richter, Claudia Geisler-Bading, Matilda Schmidt, Peter Schneider, Anja Schneider, Hannah Schiller, u. v. a.; sieben Folgen à ca. 45 Minuten; Eine Produktion von Seven Dogs Film Produktion; seit dem 30. Dezember 2022 in der ZDF-Mediathek
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