Menschliches, Allzumenschliches als literarische Appetithäppchen

Rainer Moritz kennt „Unbekannte Seiten“ aus dem Leben von Schriftsteller*innen und zeigt, was geschehen kann, wenn sie den sicheren Ort des Schreibtischs verlassen.

Von Nora Eckert

Das kleine handliche Büchlein versammelt, wenn ich richtig gezählt habe, 42 Namen von Schriftsteller*innen aus den letzten zwei Jahrhunderten: von Bettina von Arnim bis Karin Struck, von Eduard Mörike bis Hellmuth Karasek. Erschienen ist es als Oktopus Buch im Kampa Verlag. Rainer Moritz, selbst literarischer Produzent, zugleich Kritiker und beruflich gut bewandert im Literaturbetrieb, fand offenkundig Gefallen daran, die Verhaltens- und Charakterschwächen seiner Kolleg*innen mit all den mal mehr, mal weniger berühmten Namen in Alltagsszenen zu präsentieren, in denen sie, anders als mit ihrer literarischen Produktion nun wahrlich keine gute Figur machen. Es sind zumeist Geschichten, wie sie der unerschöpfliche Jahrmarkt der Eitelkeiten liefert.

Wer es literarisch kurz und knapp und dazu noch kurios liebt, wird bei Rainer Moritz gut bedient. Doch was er sozusagen im Minutentakt serviert ist oft eher eine Art Schonkost, nämlich frei von giftigen Pointen und von messerscharfem oder galligem Witz. Der Feinsinn überwiegt. Unterhaltsam ist die Sache dennoch, denn all das Schrullige und Vertüdelte, das Egomanische und Weltfremde, das Eitle und Wehleidige macht Spaß. Es sind vor allem Schmunzel-Anekdoten, die Moritz zum bunten Dichter*innen-Strauß bindet.

Es sind „kleine Geschichten, die Verblüffendes, Ungeheuerliches, Liebenswertes oder Peinliches an den Tag bringen“, heißt es im Vorwort, um auch zu bekennen, der Autor habe sich nicht gescheut, „das Überlieferte bisweilen mit diesem oder jenem anzureichern und ein paar kräftige Farbtöne hinzuzufügen“. Für meinen Geschmack hätten sie ruhig kräftiger sein dürfen, aber vielleicht hatte Moritz ja nur Angst, die so Gezeichneten könnten, obschon sie alle längst in den ewigen Jagdgründen weilen, ihm wenn schon nicht mehr leibhaftig so doch als unwirsche Gespenster im Traum erscheinen. 

Zu meinen Favoriten unter den Geschichten zählt beispielsweise die über Ernst Jünger, der sich im Hotel irrte, denn für verirrt hielt ich ihn schon immer. Oder Thomas Bernhard, der ewige Grantler und Frotzler, der bekanntlich ein Leben im Anekdoten-Modus lebte. Oder Gertrude Stein, die uns lehrte, was literarische Urteilskraft heißt, nämlich Qualität schon mit dem ersten Satz zu erkennen. Oder die Geschichte, als Hans Christian Andersen bei Charles Dickens zu Besuch war. Oder als Marcel Proust und James Joyce die Kulturgeschichtsschreibung zu Höhenflügen animierte durch ihre bloße Anwesenheit bei einem Dinner in Paris. Oder Max Frisch, eingebildet und anmaßend, als der absolute Unsympath. Natürlich darf hier nichts verraten werden, nur Selberlesen ist erlaubt.

Nora Eckert ist Publizistin, im Vorstand beim Bundesverbandes Trans* e. V. und bei TransInterQueer e. V. und Teil der Queer Media Society

Rainer Moritz: Unbekannte Seiten. Kuriose Literaturgeschichte(n); März 2022; 176 Seiten; Gebunden; ISBN 978-3-311-30024-3; Kampa Verlag; 14,00 €

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