Neid in (fast) all seinen Facetten

„Neidisch sind immer nur die anderen“, leitet die Kulturjournalistin Bettina Schulte ihr Buch über die sechste, gelbe Todsünde, den Neid, ein. Dieser „Abhandlung über den Neid und seine kleine Schwester, die Eifersucht, wird es vor allem um das Doppelgesicht des Neides gehen: Er ist nicht nur eine zerstörerische, sondern auch eine produktive Kraft, ohne die der Fortschritt der Menschheit wohl nicht zu denken ist“, so Schulte weiter im Vorwort des als Abschlussband der Todsünden-Reihe im Hirzel Verlag erschienen Büchleins.

Bettina Schulte: Neid – Das verschwiegene Gefühl; S. 32

Allerdings scheiden sich schon bei dieser Behauptung oder Grundannahme der studierten Germanistin, Romanistin, Philosophin und Soziologin, die über Heinrich von Kleist promovierte, die Geister. Die von ihr ebenfalls im Vorwort zitierte Lilly Gast, Seniorprofessorin an der International Psychoanalytic University Berlin, sieht das anders, wie wir einem sehr interessanten Gespräch der beiden in der Deutschlandfunk Kultur Philosophiesendung Sein und Streit entnehmen dürfen. Das ist überhaupt eine sehr feine Ergänzung zum Büchlein, das bei aller Informationsfülle auf knappem Raum durchaus die eine oder andere Lücke lässt sowie manch eine Behauptung in diesen Raum stellt und dann eben einfach dort stehen lässt.

Geschwisterlicher Neid

Neid jedenfalls kennen wir alle und, wenn wir einmal ehrlich sein wollen, eben nicht nur von anderen. Gerade in der ach so besinnlichen Weihnachtszeit ist Neid ein viele umgebendes und von vielen ausgehendes Gefühl, eine geteilte Empfindung. Immerhin ist der Neid die einzige Todsünde die zwischen (mindestens) zwei Menschen stattfinden muss. Dem*der Neider*in und dem*der Beneideten. Wer Kinder hat, die nicht unbedingt zehn Jahre plus auseinander sind, dürfte das unterm leitkulturellen Weihnachtsbaum erleben. Und selbst bei älteren Geschwistern spielt das gern eine Rolle: Bekommen die jüngeren doch vermeintlich immer mehr und Besseres als die älteren früher selbst. Ja, die Play Station 5 gab es eben vor sieben Jahren noch nicht, Justus-Wolfhard! Tut uns leid, dass du nur ein My Little Pony-Set bekommen hast, Celine-Amalia, das war eben noch bevor die Mutti auf einen Pferdehof gezogen ist!

Neid unter Geschwistern ist ohnehin so eine große Sache, auf die natürlich auch Schulte in ihrem Band über das verschwiegene Gefühl eingeht. Dies einmal direkt zu Beginn des nicht mit Informationen und Anekdoten geizenden Buches, als sie die (kultur-)historischen Hintergründe beleuchtet und unweigerlich auf Kain und Abel blickt. In einem späteren Kapitel widmet sie sich dem „privilegierten Schauplatz des Neides: der Familie.“ Dies am Beispiel Siegfried Unselds und seines Suhrkamp-Verlags sowie Goethes 15 jahre jüngerer Schwester Cornelia. Der Autor dieser Zeilen musste während der Lektüre an die Reserve, den Spare, Harry, Duke of Essex, und dessen Bruder, einen gewissen William Prince of Wales denken. Ebenso an den österreichischen Kaiser Franz Joseph I. und dessen jüngeren Bruder Ferdinand Maximilian. Dann allerdings habe ich kürzlich auch NetflixThe Crown sowie Die Kaiserin geschaut.

Kirche und das Diktat der Todsünde

Spannend an Neid ist, wie Schulte die fortwährende Tabuisieriung dieser Empfindung erläutert und uns wissen lässt, dass es „zur moralischen Verdammnis der >>Invidia<< als Todsünde […] allerdings erst im Christentum“ kommt. Im sechsten Jahrhundert fügte Papst Gregor der Große sie „seinem Katalog der Todsünden als letzte hinzu.“ Wieso, weshalb, warum er dies tat, können wir ihn leider nicht mehr fragen, da der von Gott bestimmte, doch von Menschen gewählte, Vertreter der Frau im Himmel mittlerweile ganz menschlich verstorben ist.

Aber im Ernst: Durch manch kleine, aber fundierte Erläuterung, wird wieder einmal deutlich, wie die institutionalisierte Kirche Menschliches, allzu Menschliches, zum Formen und Geißeln ihrer Schäflein nutzt. Diktatoren wie Faschisten konnten schon immer viel von der Kirche lernen. Drum waren sie einander wohl immer entweder die größten Stützen oder ärgsten Gegner.

Von Neid zerfressen? Faschos und Ossis

Apropos Faschismus: Als größten Neider der Geschichte macht Bettina Schulte Adolf Hitler aus, der „das versteckte Neidpotenzial [gegen Jüdinnen und Juden, Anm. d. Red.] in der Bevölkerung hemmungslos entfesselte.“ Machten sie doch bei einem Bevölkerungsanteil von nur acht Prozent in Deutschland 60 Prozent des Akademikeranteils aus und galten als westeuropäische Elite. Dass dies auch noch sehr viel mit der Geschichte, also der fortwährenden Verfolgung und Ermordung von Jüdinnen und Juden sowie diversen Berufsverboten zu tun hatte, spielte dabei natürlich keine Rolle.

Auf den Faschismus folgte in manchem Teil des – glücklicherweise – gescheiterten Dritten Reiches der Sozialismus, also die DDR. Diese gilt Bettina Schulte im Kern als eher neidbefreit. Denn es hatten ja alle das Gleiche oder auch das selbe Nichts. Das mutet etwas seltsam an und auch wenn sie kurz zuvor aus Dirk Oschmanns Wut-Essay Der Osten: eine westdeutsche Erfindung zitiert und sich einiger seiner Gedanken annimmt, seine Schrift zurecht vor Kritiker*innen verteidigt, die Oschmann wiederum Neid unterstellen, ist das zu kurz gegriffen.

Ebenso wenn sie später den gebürtigen Dresdner Wolfgang Engler zitiert, der in seiner (subjektiven und ungenauen) Buchstudie Die Ostdeutschen meint, der Arbeiter in der DDR sei ein „>>Glücksind der Geschichte<<: >>Er musste nichts sein, um etwas zu werden, nichts werden um etwas zu sein, denn alles was er sein und werden konnte, war er bereits: ein anerkanntes Mitglied des Gemeinwesens.<<“

Die neidfreide DDR?

Nun, also, tja. Ich muss gestehen, dass ich von diversen Einlassungen eines mir sehr selbstgerecht erscheinenden Wolfgang Englers wenig halte. Auch Schulte weist darauf hin, dass Engler verschweigt, wie wichtig für ein solides Leben in der DDR Staatstreue und die SED-Mitgliedschaft waren. Vielleicht sollte der vormalige Direktor der Schauspielschule Ernst Busch nochmals den Film In einem Land, das es nicht mehr gibt schauen. Ebenso fehlen sowohl bei ihm als auch im Band Neid der Gedanke, dass drohende Repression durchaus dafür zu sorgen wusste, nicht allzu sehr auf das grünere Gras, den schöneren Couchtisch oder den Wartburg des Nachbarn zu blicken.

Ebenso bin ich der festen Überzeugung, dass die Stasi in einem nicht nur per Verordnung neidfreien Staat nicht so erfolgreich hätte funktionieren können. Von jenen, die erpresst und/oder genötigt worden sind, mit dem DDR-Spitzeldienst zu kooperieren einmal abgesehen: Welchen Grund hätte ich denn, meine Nachbar*innen, Kolleg*innen, Freund*innen, Partner*innen und Familie auszuspionieren, wenn nicht jenen, des Versprechens es besser zu haben als andere? Eben.

Von (Denk-)Faulheit…

Apropos es besser haben: Bettina Schulte kommt auch auf unsere vermeintliche „Neidgesellschaft“ zu sprechen, in der jede Forderung nach fairem Lohn, sozialem Ausgleich und Steuer- und Abgabenerhöhungen für (Super-)Reiche direkt mit dem Vorwurf des „Sozialneids“ verworfen, ja an den Pranger gestellt wird. Stattdesen, so Schulte in Wut, spiele mensch lieber etwa die Arbeiter*innen gegen die Sozialhilfeempfänger*innen aus und diese – oder beide Gruppen – gegen Ein- und Zuwander*innen. Das Erschreckende ist: Es funktioniert. Das mag aber auch daran liegen, so meine Behauptung, dass der Mensch grundsätzlich ein eher (denk-)faules und recht behäbiges Herdentier ist.

Weniger behäbig, viel eher sehr behände sind hingegen diverse Influencer*innen, denen wir, neben etwa Freud, Marx, Proust und Rousseau, im Büchlein Neid ebenfalls begegnen. Diese bezeichnet Bettina Schulte als „Marketingstrategen des beginnenden 21. Jahrhunderts“, zählt auf, in welchen Bereichen es diese gibt und dass zwsichen „Nano-, Mikro-, Makro- und Mega-Influencern“ unterschieden wird. Allein scheint sie nicht viel von diesen zu halten – und dies nicht nur, weil sie als Werbeträger*innen (oft mit starken Agenturen im Rücken) den Neid als Ansporn nutzen, uns etwas zu verkaufen. Halt so wie Werbung schon immer funktionierte (Hey, Don Draper und Brian Kinney!).

Komisch wird es, wenn die kapitalismuskritische Kulturjournalistin Schulte dann allerdings dies schreibt: „Wie attraktiv diese Tätigkeit mit ihren kapitalistischen Versprechungen – von Beruf kann man ja kaum sprechen – für viele ist, demonstrieren die Zahlen“, laut derer nach einer internationalen Studie 4,6 Millionen Konsument*innen in Deutschland als Influencer*innen gelten und in die oben genannten Gruppen aufgeteilt werden. Dass schon diese hohe Zahl darauf hinweisen sollte, dass es sich durchaus auch um einen Beruf handeln kann und ihre Quelle, ihr Argument ihrer Behauptung widerspricht, mag Schulte hier nicht sehen.

…und Hochmut

Wieso das? Ist das Generationenneid? Die Jüngeren können mehr nutzen als ich? Möglich, aber unwahrscheinlich. Auf jedem Fall scheint diese freche Behauptung aber eine andere zu untermauern. Nämlich jene der Kulturelite in ihrem Elfenbeinturm, die verächtlich auf alles Neue, Andere und Unbekannte blickt. Was der*die klassische Feuilletonist*in nicht kennt/versteht, goutiert er*sie nicht. Dabei ließe sich auch über jene, die über Kultur schreiben und dafür Geld bekommen, sagen, es handele sich lediglich um ein bezahltes Hobby. Ein Beruf jedenfalls dürfte es dem Gedankengang Schultes zu Influencer*innen folgend, kaum sein. Es wird ja nicht einmal ein materieller Wert geschaffen. Es wird nichts veräußert.

So schnell kann eine kleine, despektierliche, wohl aus Unkenntnis und einem Hauch Ignoranz getroffene Äußerung die Büchse der Pandora öffnen – und das Gefühl gegenüber dem ganzen Buch verändern. Bei mir jedenfalls kippte an dieser Stelle ob ihres Hochmuts etwas (die DokuSerie Behind the Feed auf joyn sei an dieser Stelle empfohlen). Allerdings stimme ich ihr in Teilen zu, wenn sie meint, dass ein Großteil der Influencer*innen eher für heteronormative, konservative Werte stehe oder diese jedenfalls vermittle. „Feministische, queere und diverse Gedanken finden kaum Eingang in die schöne heile Konsumwelt der Influencer-Szene“, schreibt sie.

Wobei auch hier eingeschränkt werden sollte, dass es durchaus diverse diverse (und sehr erfolgreiche) Influencer*innen gibt und sich das Geschäftsmodell natürlich erst einmal auf vertrautem Terrain ausprobiert, bevor es neue Wege beschreitet. Ihr Buch erscheint ja auch gedruckt und als eBook und nicht als Virtual-Reality-Vortrag, oder? Dass sie zudem nun keine große Kämpferin für Diversität ist, zeigt sie mit folgender Formulierung, die erneut für eine gewisse Unkenntnis Schultes spricht: „Welcher heteronormativ orientierte Mensch würde einem Transgender [sic!] schon sein Outfit [sic!] neiden? Da fehlt einfach die Vergleichsmöglichkeit – die Grundvoraussetzung für neidisches Denken.“

Sich dem Neid hingeben

Dessen unbenommen stecken viele feine Gedanken in Neid und durchaus hat es auch in mir die eine oder andere Überlegung angestoßen. Dass ich mitnichten allen Schlussfolgerungen der Germanistin folge bedeutet nicht, dass sie es nicht wert wären, durchdacht und diskutiert zu werden. Am Ende jedenfalls steht der Wunsch nach mehr Neidtoleranz und die Bestätigung, dass Neid eben zum Leben und Menschen gehört und manches Mal auch Antrieb sein kann.

Ob diese Rezension Leser*innen nun Lust auf das oft sehr kluge und anregende Buch macht, vermag ich nicht zu sagen. Ein letzter Hinweis noch: Die Quellendichte ist fein und allein die Verweise auf weiterführende Lektüren, Studien, etc. haben es sich lohnen lassen, mich in der (Vor-)Weihnachtszeit mit dem Neid zu befassen. Dann allerdings geht mir als Nicht-Christ und Baumabholz-Vermeider das Fest auch recht solide am Arsch vorbei, weshalb ich mich in jenen Tagen sehr gern dem Neid der Anderen widme. Später folgen Völlerei und Faulheit.

AS

Bettina Schulte: Neid – Das verschwiegene Gefühl; Band sieben der Todsünden-Reihe; November 2023; 120 Seiten, mit 5 farbigen Abb.; Kartoniert, Klappenbroschur; ISBN: 978-3-7776-3099-1; Hirzel Verlag; 18,00 €

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