Stell dir vor, es ist zerrüttete Familie und einige sterben. Muss Sonntagskrimi-Zeit sein. Ist auch so und an diesem Sonntag ist das im neuen Frankfurt/Oder/Słubice-Polizeiruf 110: Hildes Erbe eine ganz wunderbare Zeit. Quasi blutig aber schön. Warum nicht Abgründe auch mal mit einem Augenzwinkern erzählen? Gerade Geschichten von kaputten Familien lassen sich immerhin in einer Form überzeichnen, die dennoch keine absolute Karikatur sein muss.
Tod durch Krempel
Das ist natürlich ein schmaler Grat – den betreten die Drehbuchautor:innen Eoin Moore und Anika Wangard, die gerade erst Bukow fulminant in Rostock verabschiedet haben, hier aber sehr erfolgreich. Dazu führen sie noch die neue Figur ein, die fortan gemeinsam mit Adam Raczek (Lucas Gregorowicz) im deutsch-polnischen Kommissariat ermitteln wird: Kommissaranwärter Vincent Ross (André Kaczmarczyk), frisch von der Polizeischule lernt Raczek ihn an einem Tatort kennen und zwar als Zeuge.

Ross ist gerade erst in seine neue Wohnung in Słubice gezogen, als schon sein Nachbar, der 22-jährige Student Bastian Grutzke (Oskar Bökelmann), ermordet wird. Tatwaffe: Eine Nippes-Porzellanfigur und eine Fensterscheibe. Verstört vor Ort: Bastians Schwester Emma (Ada Philine Stappenbeck). Irritiert, übernächtigt und garstiger als sowieso schon dazukommend: Adam Raczek. Der Einstieg, mit Vincent Ross im Schottenrock und kajalummantelten Augen, ist ein nahezu perfekter Buddy-Movie/ungleiches-Paar-Auftakt.
Oma macht das schon
In diesem Polizeiruf 110 begegnen sich zwei Konzepte von Männlichkeit: Gregorowiczs Raczek wie wir ihn seit geraumer Zeit kennen, immer etwas rau, dezent großklötig und gleich noch die Rangordnung klarstellend und der, vom Sender rbb als genderfluid angekündigte Ross, mit einem Bachelor in Psychologie, dem gesunden Bewusstsein seines Selbst, das ihn eben nicht in unförmige Jeans zwingt und einer emphatischen Ruhe, wie sie seinen neuen Kollegen eher beunruhigt. Sitzpinkler ist er auch noch!

Ebenso beunruhigend ist der Fall, der immer weitere Finten schlägt. Bastian war kürzlich bei seiner Oma Hilde (wanhsinnstoll: Tatja Seibt), einer rabiaten und robusten Frau, kurz vor dem Lebensende und kettenrauchend an der Sauerstoffflasche, die in etwa so viel von ihrer Familie hält, wie Ungarns Präsident Viktor Orbán von liberalen Demokratien. Von ihr stammt auch die Porzellanfigur, das ganze Hause ist voll davon.
„Ist meine Familie. Sehen gut aus, quatschen nicht.“
Hilde Grutzke im Polizeiruf 110: Hildes Erbe
Blick nach vorn
Dann springt noch ein Verwandter durchs Bild, der von Lars Rudolph verkörperte Ulf Grutzke liefert eine gute Begründung für Alkoholismus ab; eine Pflegerin gibt es auch noch, die im Spiel von Isabel Schosnig angenehm undurchsichtig bleibt. Schließlich ist es nicht nur der Tod von Bastian, der alle beschäftigt, sondern auch die Frage, was mit Hildes wundersam entstandenem Vermögen passieren wird.

Zwischen rasanter Ermittlung, die diverse Fahrzeuge irgendwie crashen lässt, und Vermittlung lernen sich Kriminalhauptkommissar und Kommissaranwärter besser kennen. Nähern sich an, zum Beispiel beim Grillen, wenn’s auch komisch wird, als Vincent Ross, nicht ganz wider Erwarten, als Vegetarier Toast und Ketchup isst, um sich kurz darauf wieder verwundert voneinander abzuwenden. Und dann wieder fasziniert aufeinander zugehen. Die Konstellation ist spannend, glaubwürdig, unterhaltsam; André Kaczmarczyk füllt seine Figur schnell auf eine Art aus, die uns Lust auf mehr macht (es sei noch dieses Interview mit ihm im Tagesspiegel empfohlen).
Und wer weiß, vielleicht wird ja demnächst im Umfeld des Frankfurt-Słubice-Pride ermittelt.
AS
Polizeiruf 110: Hildes Erbe läuft am Sonntag, 30.01.2022, um 20:15 Uhr im Ersten, um 21:45 Uhr auf one und ist anschließend für sechs Monate in der ARD-Mediathek verfügbar.
Polizeiruf 110: Hildes Erbe; Deutschland, 2021; Regie: Eoin Moore; Drehbuch: Anika Wangard, Eoin Moore; Kamera: Florian Foest; Musik: Warner Poland, Kai-Uwe Kohlschmidt, WolfangGlum; Darsteller*innen: Lucas Gregorowicz, André Kaczmarczyk, Tatja Seibt, Lars Rudolph, Ada Philine Stappenbeck, Fritz Roth, Robert Gonera, Klaudiusz Kaufmann, Isabel Schosnig; Laufzeit ca. 90 Minuten; Eine Produktion der Eikon Media GmbH im Auftrag des Rundfunk Berlin-Brandenburg für Das Erste
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