Tragischer Polnischer Abgang 

Das Polizeiruf 110-Jahr begann mit einem Abschied und es endet mit einem: Im heutigen deutsch-polnischen Polizeiruf 110: Abgrund heißt es nach zwölf filmischen Einsätzen – zuerst mit Olga Lenski (Maria Simon) und seit Januar 2022 mit dem genderfluiden Vincent Ross (André Kaczmarczyk) – Abschied nehmen von Adam Raczek, da Darsteller Lucas Gregorowicz auf eigenen Wunsch die Krimi-Reihe verlässt. Passend dazu und und zum Titel, blickt diese Folge dann auch in diverse Abgründe und im Gegensatz zum ersten Fall von Raczek und Ross, Hildes Erbe, ohne jedes Augenzwinkern.

Druckaufbau durch Anwesenheit

Am Rande eines ehemaligen Braunkohlegebiets in der Lausitz (Hey, Lauchhammer!) wird in einem Waldstück nahe des Dorfes Fehlow die Leiche der polnischen Geologin Magdalena Nowak gefunden. Todesursache: Ersticken mit Plastiktüte. Laut Angabe ihres Freundes Tom Grabowski (Patrick Kalupa) wollte Magdalena zu ihrem Camper. Die Geologin arbeitete an einem Bodengutachten im Rahmen der Rekultivierung des ehemaligen Abbaugebiets, das touristisch erschlossen werden soll. Ein künstlicher See soll entstehen, informiert die Leiterin des Projektes, Kristin Bredow (Annika Kuhl), die beiden Ermittler Kriminalhauptkommissar Adam Raczek und Kriminalkommissaranwärter Vincent Ross.

Kommissaranwärter Vincent Ross (André Kaczmarczyk, l.) befragt eine Bewohnerin von Fehlow, Bettina Sassnitz (Rosa Enskat, r.), ob es in der Region in der Vergangenheit Gewaltverbrechen an jungen Frauen gegeben hat // © rbb/Christoph Assmann

Die Bewohner*innen des Dorfes versprechen sich mit Blick auf einen Neuanfang viel davon, da dürften die eher erschreckenden Ergebnisse des Gutachtens nicht gut angekommen sein. Ist dies ein Tatmotiv? Der Gedanke verschwindet schnell, als infolge einer Bodenrutschung eine weitere Leiche auftaucht. Hängen die zwei zeitlich weit auseinanderliegenden Fälle zusammen? Und falls ja: Ist der Täter oder die Täterin noch am Werk? Haben Raczek und Ross es mit einer Mordserie zu tun? Die beiden vermuten, dass der oder die Schuldige aus dem Dorf kommen muss und quartieren sich kurzerhand im örtlichen Gasthof Franke ein, um Druck aufzubauen. 

Dritte Hauptrolle: Bergwerk F60

Schon der letzte Polizeiruf fokussierte sich stark auf den Mikrokosmos Dorf, was Autor*innen und Co. eine gänzlich andere Spielwiese bietet, die das Autorenduo Ralf Leuther (aus der Eifelregion stammend) und Peter Dommaschk (gebürtiger Cottbusser) hier gekonnt zu nutzen weiß. Genau wie es auch von Menschen erzählt, deren Leben auch dreißig Jahre nach dem Mauerfall noch im Umbruch sind oder von diesem geprägt bleiben. Auch Dirk Grabowski (Peter Moltzen) arbeitete vor der Stilllegung in einem Bergwerk, in dem er immer noch gern werkelt und schraubt.

Kriminalhauptkommissar Adam Raczek (Lucas Gregorowicz, r.) sucht nach einer Panikattacke Halt bei Eva Wozniak (Anja Antonowicz, l.), die im Gasthof des Ortes arbeitet // © rbb/Christoph Assmann

Diesem kommt eine nicht unwesentliche Rolle im unter der Regie von Stephan Rick entstandenen Polizeiruf 110: Abgrund zu, was durch die eindrücklichen Bilder von Felix Cramer unterstrichen wird. Gedreht wurden diese Teile im Besucherbergwerk F60 in Lichterfeld, das auch Der Legende Eiffelturm genannt wird und stehend 200 Meter höher wäre als dieser, wie André Speri vom Bergwerk im Making-of zu erzählen weiß.

Es braucht ein Dorf,…

Lange tappen die beiden Ermittler in diesem Dorfumfeld jedoch im Dunklen; zwar kennt der langjährige Pfarrer von Fehlow, Simon Bredow (Steven Scharf), alle in Dorf und Umgebung nur zu gut und auch die Gasthofbesitzerin Maria Franke (Marie Anne Fliegel) weiß um so manche Geschichte, doch bei allen Animositäten untereinander sind solche Dorfgemeinschaften eben doch ein verschwiegener und verschworener Haufen. Erst recht, wenn es wohl nun darum geht, einen Sexualstraftäter unter ihnen auszumachen. Nicht selten haben wir bei diesem atmosphärischen Krimi den Eindruck, mensch würde es dort lieber unter sich ausmachen.

Maria Franke (Marie Anne Fliegel, 2.v.l.) muss im Beisein von Dirk Grabowski (Peter Moltzen, 3.v.l.) mit ansehen, wie ihr Sohn Andreas (Peter René Lüdicke, 3.v.r.) wegen Mordverdachts festgenommen wird // © rbb/Christoph Assmann

Schnell verdächtig ist der Franke-Sohn Andreas (Peter René Lüdicke), denn einig sind die Ermittler des Kommissariats Swiecko sich, dass „es sich bei dem Täter um einen Mann handelt, ohne Partnerin, sexuell frustriert – das trifft doch auf Sie zu“, wie ein psychisch und körperlich angeschlagener Raczek, der verzweifelt auf der Suche nach (gutem) Kaffee ist, anmerkt. Kurz danach ist der Verdächtige im Krankenhaus. 

…um ins Dunkel zu blicken

Sowohl Ross, als auch Dienststellenleiter Karol Pawlak (Robert Gonera), Komisarz Wiktor Krol (Klaudiusz Kaufmann) und Polizeihauptmeister Wolfgang Neumann (Fritz Roth, auch hier heißt es Abschied nehmen – Fritz Roth starb im August 67-jährig nach langer Krankheit) sind sich einig, dass Raczek eine Pause und womöglich auch Hilfe gebrauchen könnte. Der bleibt natürlich dabei, die Dinge lieber mit sich auszumachen. Allerdings findet er einen guten Zugang zu Eva Wozniak (Anja Antonowicz), die im Gasthof arbeitet, ein wenig Licht ins Raczek’sche Dunkel bringt und eine nicht unwesentliche Rolle beim polnischen Abgang des Kommissars spielen wird.

Polizeihauptmeister Wolle Neumann (Fritz Roth, l.) und Komisarz Wiktor Krol (Klaudiusz Kaufmann, r.) freuen sich über erste Ermittlungserfolge im deutsch-polnischen Kommissariat in Swiecko // © rbb/Christoph Assmann

Am Ende dieser vielschichtigen und gut ausbalancierte Reise am Abgrund, die uns nicht nur eine Dynamik zwischen Raczek und Ross aufzeigt, die vielversprechend hätte sein können, sondern auch noch manch eine Leiche und versuchte Selbsttötung bringt, ist das Dunkel mit leichtem Vorsprung vor dem Licht. Doch wir dürfen gespannt sein, wie sich eine Konstellation um den geerdeten Kommissaranäwrter mit Psychologiestudium Vincent Ross entwickelt. Nun schließen wir aber mit Adam Raczek und sagen: Danke, für alles.

AS

PS: „Wir müssen Andreas Franke zum reden bringen, jetzt!“ – „Nee, wir müssen produktiv mit kognitiven Dissonanzen umgehen; aber das fällt dir offensichtlich n’ bisschen schwer.“

PPS: Lucas Gregorowiczs Worte zum Abschied: „Nach sieben Jahren und zwölf Abenteuern ist es Zeit zu gehen. Ich bin sehr dankbar für diese Zeit: für die Menschen, mit denen ich arbeiten durfte, die Freundschaften und die Chance, meine eigene polnische Seite in diesem erstklassigen Format ausleben zu können, Maria Simon, dem Sender rbb und den immer großartigen Teams und fantastischen Kolleginnen und Kollegen dies- und jenseits der Grenze. Allen voran möchte ich den Zuschauerinnen und Zuschauern danken, die diesen gewagten Schritt an die polnische Grenze mit allen Höhen und Tiefen mit uns gegangen sind. Und André Kaczmarczyk für Liebe und Vertrauen. Nicht zuletzt auch Adam Raczek: Du wirst mir fehlen, mein Freund. Ich wünsche allen Beteiligten, dass der Polizeiruf 110 auch in Zukunft relevant und unterhaltsam bleibt.“

PPPS: Die Sonntagskrimis haben in diesem Jahr eine Reihe von Abschieden erlebt, nicht wenige davon tragisch-tödlich. Am kommenden Sonntag sehen wir einen einigermaßen gebrochen Robert Karow (Mark Waschke) in einem sehr, sehr queeren beziehungsweise schwulen und vor allem fulminanten Tatort. Unsere Besprechung lest ihr am 18. Dezember! 

Polizeiruf 110: Abgrund // © rbb/Christoph Assmann

Polizeiruf 110: Abgrund läuft am Sonntag, 11.12.2022, um 20:15 Uhr im Ersten, um 21:45 Uhr auf one und ist anschließend für sechs Monate in der ARD-Mediathek verfügbar.

Polizeiruf 110: Abgrund; Deutschland, 2022; Regie: Stephan Rick; Drehbuch: Ralf Leuther, Peter Dommaschk; Kamera: Felix Cramer; Musik: Stefan Schulzki; Darsteller*innen: Lucas Gregorowicz, André Kaczmarczyk, Patrick Kalupa, Peter Moltzen, Annika Kuhl, Steven Scharf, Marie Anne Fliegel, Peter René Lüdicke, Rosa Enskat, Tomek Nowicki, Fritz Roth, Robert Gonera, Klaudiusz Kaufmann; Laufzeit ca. 89 Minuten; Eine Produktion der Real Film Berlin GmbH (Produzentin: Heike Streich) im Auftrag des rbb (Redaktion: Daria Moheb Zandi) für das Erste

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