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Beitragsbild: Unter dem Titel Transvestiten vor dem Eingang des Instituts für Sexualwissenschaft veröffentlichte Fotografie, aufgenommen anlässlich der Ersten InternationalenTagung für Sexualreform auf sexualwissenschaftlicher Grundlage in Berlin, 1921 | © bpk / Kunstbibliothek, SMB, Photothek Willy Römer

„Was selbstverständlich sein sollte, war es nie – und ist es allen erkennbaren Fortschritten zum Trotz leider auch heute noch nicht: Das Recht eines jeden Menschen auf Selbstbestimmung, auf die Freiheit zu sein, wer wir sind, zu lieben, wen wir lieben, anerkannt, respektiert und mit gleichen Rechten ausgestattet.“ 

So schreibt es Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Bündnis 90/Die Grünen) in ihrem Vorwort zum Buch TO BE SEEN. Queer Lives 19OO–195O, das im März als Begleitband zur gleichnamigen Sonderausstellung im NS-Dokumentationszentrum München im Hirmer Verlag erscheinen wird. Roth ist auch Schirmfrau der Ausstellung, die mit historischen Zeugnissen und künstlerischen Positionen von damals bis in die Gegenwart queere Lebensentwürfe und Netzwerke, Freiräume und Verfolgung nachzeichnet. 

Vielfältige Rollenbilder

Cover von Die Freundin vom 26. Dezember 1927 // © Forum Queeres Archiv München

Wir müssen gestehen, dass wir die Ausstellung noch nicht gesehen haben. In diesem Sinne folgen nun Auszüge aus der Pressemitteilung des NS-Dokumentationszentrums München. Zum Schluss findet ihr noch ein, zwei Hinweise auf Veranstaltungen — unter anderem zum Thema „Intimität und Wissenschaft – Queer in den Lagern“ mit der sehr geschätzten Anna Hajkova, Katharina Aigner, Paula-Irene Villa Braslavsky und Niko Wahl.

„Die Ausstellung blickt auf vielfältige Geschlechter, Körper und Identitäten. Sie zeigt, wie queeres Leben in den 1920er Jahren sichtbarer wurde und in Teilen der Gesellschaft ein offenerer Umgang mit Rollenbildern und Begehren entstand. Homosexuelle, trans* und nicht-binäre Personen erzielten in ihrem Kampf für gleiche Rechte und gesellschaftliche Akzeptanz erste Erfolge: Sie organisierten sich, kämpften um wissenschaftliche und rechtliche Anerkennung ihrer Geschlechtsidentität und eroberten eigene Räume. 

Neben Anerkennung und Sichtbarkeit in Kunst und Kultur, Wissenschaft, Politik und Gesellschaft nahmen aber auch die Widerstände gegen diese emanzipatorischen Bewegungen zu. Ab 1933 wurden insbesondere homosexuelle Männer verfolgt und in Konzentrationslager verschleppt, die Subkultur von LGBTIQ* weitgehend zerstört.“

Mutige, selbstbestimmte Lebensentwürfe

„Nach 1945 wurden queere Geschichten und Schicksale kaum archiviert oder erinnert. Nach langen Bemühungen der Communities darum, ihre queere Geschichte aufzuarbeiten, haben schließlich auch öffentliche Museen und Archive damit begonnen, ihre Bestände zu ‚queeren‘ und die Geschichte von LGBTIQ* auszustellen. Im Deutschen Bundestag wird erstmals 2023 am Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus an die Menschen erinnert, die aufgrund ihrer sexuellen und geschlechtlichen Identität verfolgt und ermordet wurden

Blick in die Ausstellung mit der Arbeit Quilt #43 (Sophia Goudstikker) von Philipp Gufler, 2022 // © NS-Dokumentationszentrum München, Foto: Connolly Weber Photography

Die Geschichte von LGBTIQ* in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist jedoch viel mehr als eine Geschichte von Verfolgung und Ausgrenzung – mutige, selbstbestimmte Lebensentwürfen, Zusammenhalt, Innovation und Fortschritt sind Teil dieser Geschichte. Dieser Vielfalt spürt TO BE SEEN in fünf Ausstellungskapiteln nach. Ein Prolog führt außerdem in das Gesamtkonzept ein; der Epilog verweist auf queere Errungenschaften bis in die Gegenwart.“

Ohne Hirsch ist kein Feld zu bestellen

„In den beiden ersten Kapiteln ‚Selbstermächtigung‘ und ‚Begegnen, bewegen – Banden bilden‘ werden einzelne Menschen und Bewegungen vorgestellt, die gegen die um 1900 herrschende Geschlechterordnung aufbegehrten und für eine offenere Gesellschaft eintraten. In ihrem Kampf für gleiche Rechte und Akzeptanz solidarisierten sie sich untereinander, organisieren sich in Vereinen, gründeten Zeitschriften, prägten neue Begriffe und trafen sich in Bars und Clubs. Die queere Subkultur, mit einem Schwerpunkt in Berlin, hatte in der Weimarer Republik ihre Blütezeit. 

Polizeifoto von Liddy Bacroff, aufgenommen nach einer Festnahme 1933 // © Staatsarchiv Hamburg

Anfang des 20. Jahrhunderts werden Sexualität und Geschlecht zunehmend auch ein Thema der Wissenschaft. Das Kapitel ‚Wissen, Diagnose, Kontrolle‘ gibt Einblicke in die frühen Anfänge der Sexualwissenschaft und ihrer Vertreter*innen. Positionen einflussreicher Personen wie der Gründer des Instituts für Sexualwissenschaften Magnus Hirschfeld werden ebenso vorgestellt wie Selbstzeugnisse einzelner ‚Patient*innen‘. Die Ausstellung verweist hier auch auf eine schicksalhafte Ambivalenz: Die Befassung mit der Vielfalt neuer Körperbilder brachte nicht nur Sichtbarkeit, sondern führte zugleich zur Pathologisierung und erleichterte die staatliche Kontrolle.“

Nicht nur gefühlte Drastik

„Das vierte Ausstellungskapitel ‚Körper fühlen, Bilder sehen‘ befasst sich mit neuen Vorstellungen von Körper, Geschlecht und Intimität, die ihren Ausdruck in der Kunst und Kultur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts finden. In Literatur, Theater, Film und Bildender Kunst entstand ein Möglichkeitsraum, geschlechtliche Stereotypen in- frage zu stellen und neue Körper- und Rollenbilder zu entwerfen. In Bars, Clubs und Varietés kamen Menschen mit alternativen Geschlechterbildern in Berührung. Vieles was heute als queer wahrgenommen wird, hat seinen Ursprung in dieser frühen queeren Ästhetik der 1920er-Jahre. 

Auszug aus demTagebuch von Elisabeth (Lilly) Wust, August 1944 bis 28. Februar 1945 // © Jüdisches Museum Berlin, Schenkung von Elisabeth Wust, Foto: Jens Ziehe

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten, deren Ideologie ‚Andersartigkeit‘ als volksgefährdend sah, wurde jede Form queeren Lebens bedroht. Ab 1934 wurden homosexuelle Männer durch die Gestapo verfolgt und der § 175 wurde drastisch verschärft. Bis 1945 wurden über 57.000 homosexuelle Männer verurteilt, bis zu 10.000 in Konzentrationslager verschleppt und mindestens die Hälfte von ihnen ermordet. Lesbischen Frauen und trans* Personen wurden mitunter andere Straftaten zur Last gelegt: etwa Prostitution oder Erregung öffentlichen Ärgernisses. Nicht wenige wurden aus politischen, sozialen oder rassistischen Gründen verfolgt.“

Prägende Biografien

„Das Kapitel ‚Leben in der Diktatur‘ zeigt, unter welchen Bedingungen queere Menschen während des Nationalsozialismus gelebt haben, wie sie sich anpassen, ihre sexuelle Orientierung oder geschlechtliche Identität verleugnen und teilweise ins Exil gehen mussten. Einzelne homosexuelle oder transidente Menschen entscheiden sich aber auch zu aktivem Widerstand gegen das NS-Regime. 

Lena Rosa Händle, Diese Hände – eine Welt ohnegleichen, Fotografie, 2022 // Courtesy the Artist

Die historischen Kapitel der Ausstellung werden im ersten Obergeschoss des NS-Dokumentationszentrums präsentiert. Ergänzt wird die Ausstellung im Lernforum des Hauses durch eine Leselounge mit ausgewählter wissenschaftlicher Literatur zum Thema sowie der Station ‚Paul Hoecker: gefeiert, geoutet, vergessen’, die in Kooperation mit dem Forum Queeres Archiv München e. V. entstand. Paul Hoecker (1854 – 1910) prägte die Münchner Kunstszene des späten 19. Jahrhunderts als Künstler und Professor an der Akademie der Bildenden Künste. Nach seinem unfreiwilligen Outing als Homosexueller – im Modell seines gefeierten Werks Ave Maria wird ein Sexarbeiter erkannt – kündigte er seine Professur und zog sich aus der Kunstszene zurück. Sein Werk war lange Zeit vergessen.“

Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft

„Aktuelle künstlerische Positionen begleiten die historische Ausstellung. Sie sind als Interventionen im ganzen Haus zu finden. Die internationalen Künstler*innen begeben sich auf eine Spurensuche und loten eigene Formen des Erinnerns aus. Sie verweisen auf die Flüchtigkeit von Erinnerung, kombinieren Materialien aus verschiedenen Zeiten und machen verdrängte Geschichten sichtbar. Kontinuitäten von Diskriminierung und Verletzungen, aber auch der Zusammenhalt unter queeren Menschen werden thematisiert. Die Arbeiten wurden zum Teil eigens für die Ausstellung entwickelt.“

Philipp Gufler, Quilt #50 (Lil Picard), Siebdruck auf Stoff, 2022 // Courtesy the Artist und Galerie BQ Berlin

Wenn das mal nicht nach einer so aufreibenden wie spannenden Ausstellung (bis zum 21. Mai 2023) klingt! Wir werden uns dieser natürlich annehmen, des Begleitbands selbstredend auch. 

Künstler*innen: 

Katharina Aigner, Maximiliane Baumgartner, Pauline Boudry & Renate Lorenz, Claude Cahun, Zackary Drucker & Marval Rex, Nicholas Grafia, Philipp Gufler, Richard Grune, Lena Rosa Händle, Hannah Höch, Paul Hoecker, Nina Jirsíková, Germaine Krull, Elisar von Kupffer, Zoltán Lesi & Ricardo Portilho, Herbert List, Heinz Loew, Jeanne Mammen, Michaela Melián, Henrik Olesen, Emil Orlik, Max Peiffer Watenphul, Jonathan Penca, Lil Picard, Karol Radziszewski, Alexander Sacharoff, Gertrude Sandmann, Christian Schad, Renée Sintenis, Mikołaj Sobczak, Wolfgang Tillmans u. a.

Zur Veranstaltung Intimität und Wissenschaft – Queer in den Lagern am 20. Februar 2023:

Wie erlebten queere Menschen aufgrund ihrer sexuellen oder geschlechtlichen Identität die NS-Konzentrationslager? Was bedeuteten gleichgeschlechtliche Liebe, Begehren und Intimität angesichts des allgegenwärtigen Todes? Wie setzen wir uns heute mit der Thematik auseinander, inwieweit ist sie Teil der aktuellen Forschung und was lässt sich dazu in Archiven finden?

Die Historikerin Anna Hajkova, die Künstlerin Katharina Aigner und der Kurator Niko Wahl sprechen über (verschwiegene) Queerness in Lagern und das Unbehagen der Überlebenden. Moderiert wird das Gespräch von Paula-Irene Villa Braslavsky.

Ebenso gibt es jeden Dienstag um 17:30 Uhr und jeden Sonntag um 15:00 Uhr öffentliche Ausstellungsrundgänge. Die Zahl der Teilnehmer*innen ist begrenzt — also pünktlich kommen. Am 21. Februar gibt es um 17:30 Uhr zusätzlich einen Dialogrundgang mit Anna Straetmans und Lisa Kern — auch hier heißt’s: Wer zu spät kommt, die oder den bestraft die begrenzte Teilnehmer*innenzahl. 

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