Wo Regen, da auch Sonnenschein

Als der französische Präsident Emmanuel Macron Mitte April direkt nach einem Besuch in China äußerte, dass Europa im Falle einer Invasion des Landes in Taiwan eine eigene Position finden müsse, schrillten vielerorts die Alarmglocken – zurecht. Europa, so deutete er an, könnte sich aus einem möglichen Krieg um die Insel heraushalten – so wie China das in Russlands Krieg in der Ukraine vorgibt.. Vielleicht hat ihn dabei auch die Aussicht geritten, dass ein zweiter Krieg wie der genannte einfach zu teuer wäre und Europa weniger beträfe.

Unabhängig davon, dass diese Kalkulation nicht aufgehen dürfte – Taiwan ist der größte Chiphersteller der Welt und wozu Lieferengpässe bei diesen Gütern führen, haben wir im letzten Jahr gesehen – ist das Signal, das davon ausgeht, verheerend, wie auch Alexander Görlach befinden dürfte, der eine Weile in Taiwan lebte und uns in seinem Buch Alarmstufe Rot vor Augen führte, was bei einer chinesischen Invasion der früher Formosa genannten Insel passieren würde.

Abschied, Tee und Zeichen

Auch die Sinologin und Schriftstellerin Alice Grünfelder lebte eine Weile in Taiwan. Sechs Monate verbrachte sie zu Beginn der Coronapandemie auf der Insel. Einige ihrer Gedanken hat sie in dem Band Wolken über Taiwan – Notizen aus einem bedrohten Land festgehalten. Das Buch ist im März 2022 im Schweizer Rotpunktverlag erschienen und wurde mit der Aufnahme auf die Hotlist der unabhängigen Verlage im vergangenen Jahr ausgezeichnet.

In diesem spannenden Buch von 264 Seiten hat Grünfelder knapp 100 ihrer Notizen versammelt, die ihren Alltag, ihr Leben und ihre Eindrücke von der Insel festhalten. Von A wie (passenderweise) Abschied über G wie Götter, I wie Insel oder T wie Tee bis hin zu Z wie Zeichen hat gibt uns Grünfelder Einblicke in ihre Gedankenwelt und Erinnerungen vom Leben in Taiwan.

Natur, Kultur und Drachenboot

Manche dieser Notizen sind fünf oder mehr Seiten lang, andere nur wenige Zeilen. Wir lesen über Erfahrungen der Autorin, erfahren Neues über Flora, Fauna und Kultur dieses Inselstaats oder lesen einfach ein Gedicht oder ein paar poetisch angehauchte Zeilen aus der Feder oder der Übersetzung von Grünfelder. Sie schildert, in welchen Bereichen sie überrascht wurde und was sie vielleicht auch nicht so von Taiwan erwartet hatte. Uns erwartet eine Art erweiterter Reisebericht, in dem wir mehr über Natur, Kultur und Geschichte dieser Insel erfahren.

Das Drachenbootfahren ist beispielsweise ein Motiv, das wir immer wieder finden, in Mitteleuropa aber nur wenige Anhänger haben dürfte. Alice Grünfelder ist einem Drachenbootteam in ihrer Nähe beigetreten, musste die Techniken jedoch von der Pike auf lernen und hat es wohl nicht immer in den Kader für Wettkämpfe geschafft. Dass sie dennoch große Freude daran hatte und wohl eine neue Leidenschaft entdeckt hat, blitzt in mehreren Kapiteln wiederholt durch und sorgt für eine gewisse Kurzweil bei den Leserinnen und Lesern.

Mit der Bedrohung leben

Mehr als nur durchblitzend ist auch bei Grünfelder natürlich der bereits erwähnte Konflikt mit China. Wenn auch nicht in jedem der knapp 100 Kapitel, so lesen wir doch in vielen, dass die ungelöste Frage zwischen Beijing und Taipei das Leben auf der Insel in fast allen Facetten beeinflusst. Die Bedrohung ist gerade einmal etwas mehr als 200 Kilometer entfernt und somit stets präsent.

Und dennoch – so lesen wir bei Grünfelder – scheinen die Menschen auf Taiwan einen Umgang damit gefunden zu haben. Das müssen sie ja, leben sie doch seit der Flucht der Kuomintang 1949 unter Chiang Kai-shek auf die Insel in stetiger Bedrohung eines Überfalls. Überfallen allerdings – und auch solche Perspektiven nimmt sie dankenswerterweise mit auf – haben auch Chiang Kai-sheks Leute das damalige Formosa und mit ihm die dort lebenden Indigenen. Ein gewisser Grad an Unterdrückung und Kolonisierung kann an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben – schön, dass Alice Grünfelder hierauf nicht verzichtet.

Demokratischer Leuchtturm unter Autokratien

Und trotzdem ist Taiwan, so sollte uns klar sein, ist heute die wohl stabilste Demokratie in der Region. China ist ein lupenreiner Überwachungsstaat, die Philippinen, Vietnam oder Indonesien tragen teils mindestens autokratische Züge und Staaten wie das kleine (und hierzulande fast unbekannte) Sultanat Brunei Darussalam gehören zu den queerfeindlichsten Staaten der Region, wenn nicht gar der ganzen Welt. Taiwan hingegen hatte mit Audrey Tang wohl eine der ersten trans*-Ministerinnen der ganzen Welt und auch für Homosexualität und Queerness gibt es in dem Land eine relativ hohe Akzeptanz (auch wenn dieser Aspekt bei Grünfelder leider größten nicht behandelt wird).

Wenn uns und Europa also daran gelegen ist, die Ideale von Demokratie und Rechtsstaat zu verteidigen, dann sollten wir eindeutig weniger nach Festlandchina schauen, sondern nach Taiwan. Zu behaupten oder auch nur anzudeuten, dass uns dieser Konflikt nichts angehe, ist falsch und strategisch mehr als unklug. Der einzige europäische Staat übrigens, der die Souveränität Taiwans anerkennt, ist der Vatikan – der seines Zeichens wiederum alles andere als demokratisch organisiert ist.

Um aber dies erst einmal zu verstehen, braucht es den Austausch mit und über Taiwan und das Leben der Menschen dort. Alice Grünfelder hat den Schritt auf die Insel gewagt und bringt uns in ihrem kurzweiligen Buch Wolken über Taiwan das Land, die Kultur und auch ihre eigenen Erfahrungen aus diesem Land näher. Das ist eine charmante und abwechslungsreiche Lektüre, die viele Facetten des Lebens auf dieser Insel näherbringt, die sich dank der kurzen Kapitel auch in kleinen Happen weglesen lässt und dabei sowohl informiert als auch Spaß macht.

HMS

PS: Alice Grünfelder beklagt gegen Ende von Wolken über Taiwan angesichts der Junischneeblume, dass „Schnee im Juni“ ein schöner Titel für einen Text wäre, den es nicht gebe. Wir verweisen daher aus gegebenem Anlass auf Ljuba Arnautovićs überaus empfehlenswertes Buch aus dem Februar 2021.

PPS: Am Dienstag, 27. Juni 2023 liest Alice Grünfelder von 19:30 bis 21:30 Uhr im Theater am Ring in Villingen-Schwenningen aus ihrem Buch.

Eine Leseprobe findet ihr hier.

Alice Grünfelder: Wolken über Taiwan – Notizen aus einem bedrohten Land; März 2022; 264 Seiten; Hardcover, gebunden; ISBN 978-3-85869-943-5; Rotpunkt Verlag; 29,00 €

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