„Nicht so tun, als wäre das nur ein Tierpark“

Beitragsbild: Beraterin für die Tour und Moderatorin Kambanda Veii in Katatura // Foto: © Sydelle Willow Smith

Die deutsche Kolonialgeschichte ist in der öffentlichen Debatte ein heikles Thema oder wird vielfach einfach einfach totgeschwiegen. Deutschland beziehungsweise sein Vorgänger, das Deutsche Kaiserreich, hat in seiner zwar relativ kurzen Kolonialära dennoch relativ viel Schuld auf sich geladen. Ob es der Raub von Artefakten wie dem von Götz Aly so genannten „Prachtboot“ aus dem heutigen Papua-Neuguinea ist oder die Menschenversuche des aus heutiger Sicht mit größten Pioniers der Impfstoffentwicklung, Robert Koch, in Ostafrika (heute Tansania): Vielfach wurde Menschen großes Unrecht angetan und wir sind uns dessen nur selten bewusst.

Die wohl größten Gräueltaten wurden aber im damaligen Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia, begangen. Tausende von Herero und Nama wurden zwischen 1904 und 1908 zusammen und in die Wüste getrieben, in Konzentrationslagern unter menschenunwürdigen Zuständen zusammengepfercht und zur Zwangsarbeit verdonnert.

Eines der wohl grausamsten Kapitel deutscher Kolonialgeschichte, das bis heute noch immer andauert, ist die rassistische Forschung deutscher Ethnologen an den „einheimischen Rassen“ im deutschen „Schutzgebiet“, nicht zuletzt um zu beweisen, dass diese den Weißen unterlegen seien.

Hiervon handelt der Spielfilm Der vermessene Mensch von Regisseur und Drehbuchautor Lars Kraume, der den ambitionierten, jungen Berliner Forscher Alexander Hoffmann auf seiner Expedition in „Deutsch-Südwest“ begleitet. Wir konnten ein Gespräch mit Kraume führen, in dem es unter anderem um die Wirkung dieses ersten Spielfilms zu dieser Thematik in Namibia und Deutschland ging oder auch, wie dieser vielleicht ein Stück zur Verständigung der betroffenen Völker beitragen könnte.

the little queer review: Herr Kraume, in einer Diskussion nach der Premiere von Der vermessene Mensch im Kino International in Berlin haben Sie erwähnt, dass Sie und Ihr Produktionsteam viel in der Region um Swakopmund gedreht hätten. Nun ist Swakopmund eine relativ sichere und „deutsche“ Stadt, das Umland besteht viel aus Wüste. Und dennoch lauern an vielen Stellen in Namibia Gefahren, vor allem von wilden Tieren. Wie sind Sie damit während des Drehs umgegangen, denn unter solchen Bedingungen ist solch ein Dreh doch bestimmt gefährlich, oder?

Lars Kraume: In Swakopmund hatten wir unsere Basis, korrekt, aber wir haben in der Umgebung von Swakopmund, am Waterberg und in Windhoek gedreht. Was wilde Tiere angeht: Wir haben viel mit namibischem Team gearbeitet und die wissen natürlich, was wann zu tun ist. Da kommen zum Beispiel „Schlangenwrangler“ und die bereiten das Set auf, indem sie einmal durch den Busch gehen und nach Schlangen absuchen. Die gefährlichste Situation hatten wir am Waterberg, als wir einmal auf etwa 50 Meter an einen Leoparden herankamen, aber glücklicherweise ist da nichts passiert – und dennoch muss man damit rechnen und umgehen.

Gerade wenn das Team dort agiert und die Schauspielerinnen und Schauspieler in ihren Rollen sind, dann kann das durchaus gefährlich sein, da die Aufmerksamkeit natürlich auf der Rolle liegt. Vor allem sind es Schlangen, die eine Gefahr darstellen…

Alexander Hoffmann (Leonard Scheicher) in der gefährlichen Wüste Deutsch-Südwestafrikas // © Studiocanal GmbH/Willem Vrey

the little queer review: … stimmt, eine Schwarze Mamba spielt an einer Stelle im Film auch eine entscheidende Rolle…

Lars Kraume: …ja, und die bleibt immer gefährlich, denn der Schwarzen Mamba kann man die Zähne nicht ziehen, die ist immer giftig und die war eben auch sehr gefährlich.

the little queer review: Sehr interessant. Und die Nachtaufnahmen, sind die auch zu Nachtzeiten entstanden? Auch bei Nacht ist ja immer mit besonderen Gefahren zu rechnen.

Lars Kraume: Ja, die Szenen, die in der Nacht spielen, wurden bei Nacht gedreht und Tagszenen natürlich am Tag.

Auf Kinotour in Otjienda, Namibia // © Sydelle Willow Smith

the little queer review: Es scheint, dass Sie sich des schmalen Grats zwischen der Täterperspektive und kultureller Aneignung in Der vermessene Mensch sehr bewusst sind. Wie schaffen Sie es denn, auf diesem Grat zu balancieren, ohne eine Geschichte zu erzählen, die die namibische Seite verletzt, aber die deutschen Taten gleichsam nicht verherrlicht?

Lars Kraume: Natürlich handelt es sich um ein wahnsinnig sensibles Thema. Mit dem heutigen gesellschaftlichen Bewusstsein darüber, wer bzw. welche Kultur was erzählt, war für mich als deutscher Filmemacher nur die Perspektive eines deutschen Kolonialisten möglich, in diesem Fall eben die eines Ethnologen, auch wenn natürlich andere Rollen möglich gewesen werden. Die eines Soldaten, eines Missionars oder eines Siedlers beispielsweise.

Ich fand aber den Blickwinkel des Ethnologen spannend, weil dieser nicht die ganze Zeit am Kriegsgeschehen beteiligt ist und somit nicht so viele Bilder von Weißer Gewalt gegen Schwarze Menschen reproduziert werden mussten. Einige sind natürlich trotzdem im Film enthalten, denn wir wollen die Geschichte auch nicht verheimlichen. Aber natürlich müsste die Stimme der Opfer in dieser Geschichte lauter sein, als die der Täter, aber das würde automatisch dazu führen, dass wir dann die Geschichten der Herero und Nama erzählt hätten und ich finde, dass diese dann diese Geschichten erzählen sollten, wenn sie Filme darüber machen.

Alexander Hoffmann (Leonard Scheicher) an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin // © Studiocanal GmbH/Julia Terjung

the little queer review: Sie haben ja viel mit Personal aus Namibia gearbeitet. Denken Sie, dass Der vermessene Mensch etwas in der namibischen Filmindustrie bewegt hat?

Lars Kraume: Wir waren zur Zeit der Corona-Pandemie in Namibia und hatten inklusive aller Statisten etwa 2 000 Personen am Set. Wer Namibia kennt, weiß, dass das Land sehr reich an Bodenschätzen ist, aber die Gesellschaft selbst ist eben nicht sehr wohlhabend. Als nun während der Pandemie auch der Tourismus ausblieb, waren die Menschen über dieses Projekt, die Begegnungen und die Zusammenarbeit sehr glücklich.

Dazu muss man wissen, dass in Namibia eigentlich sehr viel gedreht wird, aber meist Profiteams aus Südafrika oder anderen Ländern dafür eingesetzt werden und eben seltener namibische Teams. Sobald jene Teams mit ihren Drehs fertig sind, reisen sie meist wieder ab, ohne einen großen Impact hinterlassen zu haben.

In den Kulissen der „Deutschen Kolonial-Ausstellung“ von links nach rechts: Jacqui Jojo (2nd AD), Cynthia Schimming (supervising costume designer Namibia), Sophie und Joel Haikali (Executive Producer in Namibia), Peter Simonischek, Felix Kaufmann (Boom Operator 1), Lars Kraume, Girley Jazama, Thomas Kufus, Leonard Scheicher, Jens Harant (DoP), oben: Judas Banda (Key Grip), unten: Manny Chonco Sithole (Gaffer), Paulus Anton (Friedrich Mahahero), Chantelle Uiras, (Nama Woman), Petrus Jod (Pveclidias Witbooi) // © Studiocanal GmbH/Anatol Kotte

Ich glaube, dass solche Projekte immer auch eine Chance und eine Inspiration für die Menschen sein können. Viele Menschen machen schon länger Filme und können das nun auf einer größeren Basis machen, beispielsweise Cynthia Schimming, die für die namibischen Kostüme zuständig war, allerdings mittlerweile verstorben ist. Aber sie war eine tolle Kostümbildnerin, die nicht oft so ein großes Projekt hat. Vor allem gab es eben bisher keinen Film, der Herero-Kult zur Zeit des Genozids darstellte. Oder auch die Line-Producer von Joe Vision vor Ort, die dem Stamm der Ovambo angehören, und hier Projekte managen konnten, die größer sind als alles, was sie bisher gemacht haben. Das hinterlässt natürlich Know-How, das nun vor Ort genutzt werden kann.

Um wirklich die namibische Filmindustrie anzukurbeln, bräuchten die Macherinnen und Macher vor Ort aber vor allem mehr Geld. Ich bin nicht ganz sicher, aber das Jahresbudget der dortigen Film Commission ist viel zu klein, als dass ein Film wie Der vermessene Mensch damit überhaupt hätte produziert werden können. Dadurch dass entsprechende Aufträge dort oft nur sporadisch kommen, können es sich viele Menschen dort nicht leisten, nur in der Filmindustrie zu arbeiten und müssen noch weitere Jobs annehmen, aber die, die Film machen wollen, sind natürlich sehr froh, wenn wir sie bei einem Projekt wie diesem einbeziehen, denn natürlich hat das dort auch vielen Arbeit gebracht.

Schulklasse während des Screenings in Okakahara // © Sydelle Willow Smith

the little queer review: Stichwort Geld: Wie schwer war es denn, für Der vermessene Mensch eine angemessene Filmförderung zu bekommen?

Lars Kraume: Oh, das war schwer. Es gab Partner, die sofort dabei waren und andere, die sehr zögerlich waren, auch wenn wir sie am Ende an Boot holen konnten. Das ging allerdings erst so richtig, nachdem 2021 bekannt wurde, dass es ein Reparationsabkommen zwischen Deutschland und Namibia geben würde. Erst danach war ein öffentliches Bewusstsein für diese Geschichte da, die ja so vergessen und verdrängt aus der kollektiven Wahrnehmung war. Mögliche Finanzierungspartner sahen daher lange keine Notwendigkeit für diesen Film. Die, die jetzt dabei sind, sind natürlich davon überzeugt, aber es gibt eben auch andere Institutionen. Und ja, wir haben auch viele Absagen bekommen.

Regisseur Lars Kraume am Set von Der vermessene Mensch // © Studiocanal GmbH/Willem Vrey

the little queer review: Gestatten Sie eine etwas politischere Frage: Es ist ja bekannt, dass Russland und China in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten massiv in Afrika investiert und diplomatische Allianzen mit afrikanischen Staaten geschlossen haben. Denken Sie, dass eine Aufarbeitung der europäischen Kolonialgeschichte in Afrika, in deren Kontext wir Der vermessene Mensch sehen, dazu beitragen könnte, dass sich „der Westen“ und die Staaten Afrikas wieder etwas näherkommen? Und dass dadurch der Einfluss Russlands und Chinas auf dem Kontinent zurückgedrängt oder eingedämmt werden könnte?

Lars Kraume: Der vermessene Mensch ist ja in erster Linie eine kritische Betrachtung unserer deutschen Kolonialgeschichte und ich finde, dass diese generelle Amnesie, nach der wir so tun, als hätten wir keine koloniale Schuld auf uns geladen, ein großes Problem ist und in den letzten 50 Jahren ein permanentes Problem war. Natürlich ist das wohl auch eine der Ursachen, warum Länder wie Russland und China – gerade China ist im südlichen Afrika sehr aktiv – viel Raum für politisches Handeln hatten.

Wir haben meiner Meinung nach kein ganz gesundes Verhältnis zu diesen Ländern. Viele Deutsche reisen nach Namibia, aber fast niemand beschäftigt sich mit der deutschen Geschichte in Namibia. Viele reisen in einer Blase von luxuriösen Lodges und Wildlife und haben mit der dortigen Bevölkerung kaum Kontakt.

Der Film kann so zu einem gesteigerten Bewusstsein für unsere Geschichte und das, was uns verbindet, beitragen und ganz andere Begegnungen möglich machen. Er kann helfen, dass wir unsere Politiker dazu drängen, dass nun endlich ein Reparationsabkommen geschlossen werden muss. Wenn also Vertreter unseres Staates nach Namibia fahren, dann würde eine offizielle Entschuldigung eines Bundespräsidenten dazu beitragen, dass wir nicht ständig so tun müssten, dass es diese Geschichte nicht gab, einfach weil wir nicht wissen, wie wir damit umgehen sollen.

Ich habe selbst Söhne und ich möchte, dass diese nach Afrika fahren und auch wissen, wo sie da hinfahren. Sie sollen nicht so tun, als wäre das nur ein Tierpark.

Zwischen dem Gespräch mit Lars Kraume und dessen Veröffentlichung wurde zwischen dem Nationalrat von Namibia und dem Russischen Föderationsrat ein Kooperationsabkommen unterzeichnet. Der CSU-Entwicklungspolitiker Wolfgang Stefinger schrieb dazu auf Instagram: „Das ist kein gutes Signal und erinnert uns grundsätzlich daran, dass es kein Naturgesetz ist, dass sich afrikanische Staaten für den politischen Westen entscheiden. Wir müssen uns um sie als Partner bemühen!“ Dem können wir uns uneingeschränkt anschließen.

Ovaherero vor einem Screening in Otjiehenda // © Sydelle Willow Smith

the little queer review: Der weiblichen Hauptfigur Kezia Kambazembi wird im Konzentrationslager Shark Island die relativ einprägsame Lagernummer 11999 zugewiesen. Hat diese Nummer eine tiefere Bedeutung?

Lars Kraume: Nein, die Nummer soll für die Zuschauer einprägsam sein, damit sie später verstehen, dass Alexander Hoffmann Kezia in jener Szene auch erkennt. Außerdem wird dadurch natürlich deutlich, wie viele Menschen in Shark Island inhaftiert waren. Hätte man beispielsweise 11442 genommen, hätten sich das viele Zuschauer vermutlich nicht merken können. Die Marke war im Film zwar nicht so leserlich wie geplant, aber es ging dabei vor allem um die Erkennbarkeit und darum, die hohe Zahl der Inhaftierten deutlich zu machen, die auf dieser Halbinsel gefangen gehalten wurden. Und das waren ja wirklich viele Tausend Menschen – ich glaube es waren um die 14 000 Personen, die in Shark Island festgehalten wurden.

Regisseur Lars Kraume auf der Weltpremiere im Rahmen der Berlinale // © Studiocanal GmbH/Sebastian Gabsch

the little queer review: Vielen Dank für das eindrückliche Gespräch.

Lars Kraume: Sehr gerne.

Der vermessene Mensch von Lars Kraume ist seit dem 23. April 2023 in unseren Kinos zu sehen. Unsere Besprechung findet ihr hier.

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