Zerbrochenes Porzellan kleben

Beitragsbild: Unverhofft kommt oft: Vince (Benito Bause, re.) und Simon (Ludwig Brix, 2. v. li.) stoßen am See auf Levo (Arash Marandi, Mitte), Sarina (Christin Nichols) und Robbie (Frédéric Brossier, li.) // © ARD Degeto/Andrea Hansen

Unser Autor Frank Hebenstreit endete in seiner kritisch-wohlwollenden Besprechung zur ersten Staffel All You Need, der „ersten schwulen Serie ‚made in Germany‘“ wie Schöpfer Benjamin Gutsche sagt, mit den Worten: „Der Weg mit einer zweiten Staffel ist nicht schlecht. Aber Du kannst mehr!“ Wie es scheint, haben Gutsche, die Co-Autor:innen Ceylan Yildirim und River Matzke sowie das gesamte Team der Serie sich aufgemacht, genau das allen zu beweisen.

Mehr Handlung, weniger Checkliste

Nach Sichtung der ersten drei von sechs Folgen, die der Presse im Vorfeld zur Verfügung standen, lässt sich jedenfalls sagen, dass die Serie ein wenig mehr bei sich angekommen zu sein scheint. Vieles läuft flüssiger, ist organischer, wirkt nicht mehr so abgehackt, wie es in der ersten Staffel oftmals der Fall war. Das Gefühl, hier dabei zuzusehen, wie eine Lebenshilfe- und Aufklärungs-Checkliste abgearbeitet wird, stellt sich so gut wie nie ein. Somit ist nicht nur der Unterhaltungsfaktor um einiges höher, sondern auch das Interesse an den Figuren, deren Profil hier deutlich an Schärfe gewinnt.

WG-Casting: Niels (Aviran Edri, l.) schaut sich das Zimmer bei Vince (Benito Bause) an // © ARD Degeto/Andrea Hansen

Wir erinnern uns: Die erste Staffel endete mit der Folge „Unter Wasser“ auch für den Hauptprotagonisten Vince (Benito Bause) wörtlich unter Wasser – nachdem herauskam, dass er etwas mit Tom (Mads Hjulmand), dem Partner seines besten Freundes Levo (Arash Marandi), hatte, landete er unversehens im Pool. Ebenso versank die neue Beziehung zu Robbie (Frédéric Brossier), der bereits Betrugserfahrungen zu durchleiden hatte. 

Vince „Es-waren-immer-andere“ Sommer

So steigen wir also in eine versprengte Freundesgruppe ein: Levo lebt nun „kurz“ mal auf der Couch von Sarina (Christin Nichols), meidet Vince (der eine Etage unter ihnen lebt); Robbie igelt, oder eher iltist, sich ein; Tom lebt sein neues Leben als offen schwuler Mann vollends aus. Vince bemüht sich darum, alles irgendwie wieder so werden zu lassen, wie es einmal gewesen ist – natürlich ein recht hoffnungsloses Unterfangen. 

Vince (Benito Bause) lenkt sich mit seiner Mutter Yanelle (Adisat Semenitsch) von seinen Sorgen ab – auch wenn diese nicht weiß, woher die rühren // © ARD Degeto/Andrea Hansen

Zumal er seine bereits aus Staffel eins bekannte „Schuld sind immer die anderen“-Attitüde beibehält und auf dem Weg, die Welt für ihn wieder schön zu machen, jedwede Verantwortung von sich auf andere zu verlagern weiß. Selten ist jemand allein schuld, das ist schon so; doch andere in Schuld hinein zu manipulieren und sich dann selbstgerecht auf die Schulter zu klopfen, ist schon hart. 

Ein seltsames Paar

Glücklicherweise macht Levo es ihm hier auch nicht allzu leicht. Überhaupt ist er in den bisherigen drei neuen Folgen die Figur, die am ehesten eine sichtbare und auch für sich merkliche Wandlung durchgemacht hat; dass Arash Marandi dazu zu den stärksten Schauspielern des Ensembles zählt, hilft natürlich dabei, den Charakter wachsen und blühen zu lassen. Unterstützt wird dies durch den Neuzugang Tom Keune, der hier Andreas, den Trainer einer queeren Rugby-Mannschaft (angelehnt an die Berlin Bruisers, die auch hier als Team dabei sind), spielt.

Gelungene Ablenkung: Robbie (Frédéric Brossier, li.) lernt durch Trainer Andreas (Tom Keune) Rugby kennen // © ARD Degeto/Andrea Hansen

Die beiden lernen sich auf einer Gangbang-Party zum vierzigsten Geburtstag irgendeines Menschen kennen und bauen über Torte vor fickenden Kerlen im Hintergrund eine solide Bindung zueinander auf. Levo giftet charmant rum („Eine Visitenkarte, wow. Krieg ich auch deine Faxnummer?“) und der Kontakt soll bestehen bleiben – wovon auch Robbie etwas haben wird, soll ihm doch der Sport helfen, aus seiner nicht-coronabedingten Selbstisolation zu finden.

Mehr Chaos, mehr Wert

Die zweite Staffel All You Need ist also schon einmal weit handlungsgetriebener, sie spielt im besten Sinne stärker eine Soap-Karte aus, insbesondere durch das Auftauchen von Sarinas Bruder Simon (Ludwig Brix), der ein wenig mehr Chaos und dringend notwendige aufrichtige Garstigkeit („Mama stirbt und du schaffst dir gleich’n Kind an. Hättest dir genauso gut auch n’ Hund zulegen können.“) in die Nummer bringt. 

Feiern lenkt ab: Vince (Benito Bause, re.) wird von Simon (Ludwig Brix) zum Tanzen überredet // © ARD Degeto/Andrea Hansen

Manch Stelle, die eine:n schaudern lässt, gibt es natürlich dennoch, etwa wenn Sarina und Vince begeistert erzählen, wieso sie sofort so tolle Freunde wurden, nämlich weil sie in der Fahrschule immer quatschten und schon beide damals fürs Tempolimit waren, was sie total zu Außenseitern machte. Um mal Logan Roy (oder eines seiner in solchen Momenten diesen beiden vorzuziehenden Kinder) zu zitieren: Oh, fuck off.

Apropos fuck: Die Staffel ist weit sexpositiver als die erste, vor allem wenn er außerhalb des vormaligen Freundeskreises stattfindet. Vince und Co. sind noch immer so verkrampft wie zuvor (was übrigens insofern irritierend ist, als dass immer wieder erwähnt wird, wie kräftig sie doch früher um die Häuser und deren Bewohner zogen). 

AS

PS: „Der, der mir alles genommen hat, was mir lieb und teuer war.“ Yes – starke Alexis Carrington Colby Vibes bei Levo, love it!

Liebeskummer schweißt zusammen: Robbie (Frédéric Brossier, li.) und Levo (Arash Marandi) sitzen im selben Flamingo-Boot // © ARD Degeto/Andrea Hansen

PPS: Die Musikauswahl ist bisher sehr, sehr fein und trägt stark zum Gefühl der Staffel bei.

PPPS: Wenn Cora kein Lebenszeichen ist, dann weiß ich auch nicht.

PPPPS: Eine Betrachtung der gesamten zweiten Staffel von All You Need wird nachgeliefert. Zunächst einmal könnt ihr euch morgen aber auf unsere Gedanken zur fünften Staffel von Élite freuen, die Netflix still und heimlich am 8. April gedroppt hat.

PPPPPS: Eine dritte Staffel All You Need ist sicher, das kündigte der Redaktionsleiter Christoph Pellander gestern in Köln an.

All You Need – Staffel zwei; ab 22.4. in der ARD-Mediathek // Im Bild: Levo (Arash Marandi) // © ARD Degeto/UFA Fiction/J. Moritz Kaethner

All You Need – Staffel 2 ist ab dem 22. April in der ARD-Mediathek zu finden und wird in der Nacht vom 21. auf den 22. Juni 2023 ab 01:50 Uhr am Stück im Ersten ausgestrahlt.

All You Need – Staffel 2; Deutschland 2022; Regie & Headautor: Benjamin Gutsche; Autoren: Ceylan Yildirim, River Matzke; Kamera: J. Moritz Kaethner; Musik: Chris Bremus; Darsteller*innen: Benito Bause, Frédéric Brossier, Arash Marandi, Christin Nicols, Ludwig Brix, Tom Keune, Mads Hjulmand; sechs Folge à ca. 25 Minuten; eine Produktion von UFA Fiction im Auftrag der ARD Degeto für die ARD Mediathek. 

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