Unangepasst-Sein wird (zuletzt?) scheinbar primär als ein großer Vorteil beschrieben. Die Möglichkeit anders zu leben als der Rest, eine vollkommen neue Freiheit spüren und leben zu können. Doch was, wenn dieses Unangepasste, dieses andere dich nur zu einem macht: dem Außenseiter in einer kleinen, festsitzenden Gemeinschaft? Und dir nahezu jede Möglichkeit fehlt, aus dieser herauszugehen? Dann ist das weniger sexy. Noch schlimmer ist es, wenn du derjenige bist, der statt eines „Besseren“ überlebt hat.
Diesen Problemfeldern – und einigen mehr – nähert sich die österreichische Regisseurin und Drehbuchautorin Evi Romen in ihrem queer aufgeladenen Regiedebüt Hochwald (deutscher Verleih: Salzgeber) an, das durch Corona nun mit Verzögerung auch in den deutschen Kinos startet. Preise gab es dafür schon, unter anderem bereits 2017 einen Drehbuchpreis der Diagonale (dieses Jahr den Preis als besten Spielfilm), 2020 die Auszeichung als bester Film in der Sektion Fokus des Zurich Film Festivals und Hauptdarsteller Thomas Prenn nahm direkt den Österreichischen Filmpreis als bester Hauptdarsteller mit.
Der Tod und das Leben
Mario (Thomas Prenn, Große Freiheit) lebt im fiktiven Bergdorf Hochwald in der Nähe Bozens. Eigentlich möchte der junge Mann Tänzer werden. Zu Beginn des Films tanzt er im fliegenden Wechsel geschlechterunabhängiger Kostüme und Tanzstile durch die Aula der örtlichen Schule. Der Moment steckt voller Energie, Kraft und Lebendigkeit. Anschließend sehen wir ihn in der Fleischerei des Ortes, in der er aushilft, Fleisch zerlegt und dem Chef gegen Extrageld einen Orgasmus beschert. Es ist Weihnachtszeit und sein bester Freund Lenz (Noah Saavedra, Bad Banks II, Egon Schiele: Tod und Mädchen), Sohn der örtlichen Winzerfamilie, ist zu Besuch.
Zwischen den beiden scheint mehr als nur freundschaftliche Zuneigung zu bestehen. Nach den Feiertagen wird Lenz nach Rom gehen und dort als Schauspieler arbeiten. Spontan, nachdem ihm die Enge des Dorfes mal wieder allzu klar wurde, entschließt Mario sich ihn zu begleiten. Womöglich wird es in Rom etwas mit der Karriere als Tänzer. Ihren ersten Abend verbringen die beiden in einer (ziemlich schnieken) Gay-Bar. Sie werden Opfer eines Terroranschlags. Lenz stirbt, Mario überlebt und kehrt in sein Dorf zurück. Doch allem, dem er hier begegnet, ist nur noch mehr Ablehnung als zuvor, Einsamkeit und dem unweigerlichen Gefühl, der Schuld am Leben geblieben zu sein, inne. Eines Tages trifft er zufällig seinen Bekannten Nadim (Josef Mohamed), einen Moslem, wieder und findet – Halt.
Keine Liebe, keine Nähe
Das richtige Leben im falschen zu führen ist nicht nur im Grunde ein Ding der Unmöglichkeit, sondern meist so trostlos wie vereinsamend. Vor allem, wenn das Umfeld zu diesem Leben beiträgt und ein Aufbrechen oder wenigstens Auflockern der gewohnten Umstände schier undenkbar ist, denn „in solchen Strukturen bekommt man mit der Geburt einen Platz zugewiesen und es ist nahezu unmöglich, innerhalb der Strukturen den Platz zu wechseln“, wie es Regisseurin und Autorin Evi Romen auf den Punkt bringt. Diese alles bestimmende Quasi-Ausweglosigkeit qua Geburt zeichnet sie nicht nur in den lauteren Momenten Marios nach, sondern ein „Bleib an deinem Platz“ durchzieht den ganzen Film.
Nun versucht dieser bewegungsfreudige Außenseiter, dieser nach Gefühlen suchende Drogenabhängige, dieser zwischen den Sexualitäten changierende Paradiesvogel zu trauern, irgendwie. Die Gelegenheit aber wird ihm nicht gegeben, stattdessen förmlich geraubt. In dieser beengenden und vermeintlich engen Dorfgemeinschaft gibt es kaum Nähe, sein Vater Zucco (Helmuth Häusler) mag eine der wenigen Ausnahmen bilden. Mario wird vermittelt, der Falsche sei gestorben, das nicht nur von Lenz’ Mutter Lamberta (Julianne Moore Katja Lechthaler), sondern von beinahe allen Hochwäldlern (der englische Titel ist auch Why Not You). Der Pfarrer redet von unergründlichen Wegen, dann doch lieber Stoizismus. Oder an Marios Stelle eine zaghafte Hinwendung zum Islam.
Im Imam „Mami“ (Kida Khodr Ramadan, In Berlin wächst kein Orangenbaum) und seinem Bekannten Nadim findet er eine Wärme und Menschlichkeit, die es oben im Dorf nicht gibt. Dort scheint man ihn ja nicht mehr nur seltsam zu finden, sondern für sein Überleben zu hassen. Schuldig soll er sich fühlen, nicht als ebenfalls betroffenes Opfer eines entsetzlichen Anschlags, das seinen besten Freund verloren hat. Dass er nun noch mit den „Muselmandln“ rumhängt macht’s nicht besser.
Schmerzhaft und sensibel
Bei dem Attentat in der Schwulenbar, das Evi Romen sehr zurückhaltend und doch schmerzhaft mit Statisten aus der Community inszeniert, handelt es sich um einen islamistischen Terroranschlag, was natürlich der Hinwendung Marios zum Islam besondere Bedeutung gibt. Aber es soll nicht zu weit vorgegriffen werden. Jedoch, auch wenn Hochwald natürlich einem Handlungsbogen folgt und Anfang und Ende die Geschichte gut einrahmen, entsteht beim Schauen das Gefühl, alles laufe parallel. Als würden Dinge, die später geschehen, sich im Hintergrund irgendwie schon anbahnen. Wir könnten es auch „folgerichtig“ nennen, das aber scheint zu formal.
Diese empfundene Parallelität mag allerdings auch dazu führen, dass Hochwald an mancher Stelle als ein wenig zu symbollastig gesehen werden kann. Wobei der Film auch hier so gut wie nie zu sehr on the nose ist. Was die rein durch die Bilder vermittelten Eigenheiten eines solchen Dorfes angeht, ist er hingegen sehr auf den Punkt, transportiert das oben umschriebene „War schon immer so“ ganz fabelhaft. Dass Evi Romen eben aus dieser Welt, ja der Gegend kommt, ist dabei sicherlich von Vorteil. „Lebenserfahrung“ nennt sie dann auch eine wesentliche Quelle ihrer Recherche zum Film.
Diese örtliche Verwurzelung, Heimat vergisst niemand, ist auch den doppeldeutigen Codes zu erkennen, die Romen auch selber beschreibt: „Jeder weiß es und keiner sagt etwas. Natürlich weiß man, dass Homosexualität im Raum steht, aber es bleibt ein Tabu. Natürlich weiß man, wer mit wem ein Pantscherl hat, aber man spricht nicht darüber.“ Gerade der letzte Satz ist einer, der im letzten Drittel des Films eine recht besondere Bedeutung erfährt, wenn nämlich indirekt die Frage aufgeworfen wird: Wie lange können Dinge codiert bleiben?
Alles anders
Doppeldeutigkeiten inszeniert Romen auch in der Religionsgemeinschaft, wenn auch, wie sie selber sagt „zart“, dann doch merklich. Der Rezensent ist dankbar dafür, empfindet er doch alle der (monotheistischen) Religionen als implizit sexuell aufgeladen, oder, um es schöner und mit den Worten der Autorin zu sagen: „Ich wage zu behaupten, dass es in verschiedensten Religionsgemeinschaften sehr viele Doppeldeutigkeiten in puncto Sexualität gibt.“
Hochwald ist dabei aber mitnichten eine Abhandlung über religiöses Leben und Sexualität, dies ist aber ein weiterer Teil in der Entwicklung eines Unangepassten und Ausgestoßenen. Auch wir mögen an mancher Stelle mit Mario hadern, doch menschlich ist er zu jedem Moment. Dafür begegnet er Leuten, die ihn genau dafür abzulehnen scheinen. Es gibt reichlich Szenen, die beinahe körperlich wehtun und dabei beziehe ich mich nicht nur auf die still-schmerzhafte Kamerafahrt (Kamera: Martin Gschlacht) nach dem Attentat.
Der Film endet schließlich mit einer ähnlich starken Einstellung, wie er begann. Lässt uns die Frage stellen, wo sich Entfaltung, Freiheit und Nähe finden lassen und dabei fragend wie einen Ziegenbock im Wald stehen. Kaum jemanden dürfte Hochwald unverändert lassen.
Hochwald läuft seit dem 7. Oktober 2021 in unseren Kinos. Bei Salzgeber findet ihr eine Übersicht. Seit dem 14. März 2022 findet ihr Hochwald auch im Salzgeber Club als Video on Demand.
Hochwald; Österreich, Belgien, 2020; Regie und Drehbuch: Evi Romen; Kamera: Martin Gschlacht, Jerzy Palacz; Musik: Florian Horwath; Darstellende: Thomas Prenn, Noah Saavedra, Josef Mohamed, Ursula Scribano-Ofner, Kida Khodr Ramadan, Katja Lechthaler, Walter Sachers, Hannes Perkmann, Helmuth Häusler, Claudia Kottal; Laufzeit: 107 Minuten; FSK 16; eine Produktion von AMOUR FOU VIENNA im Verleih von Salzgeber
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