Blicke ins Innere

Beitragsbild v.l.n.r.: Brenda Sian Roimen; Fotorgraf und Model Marcel Gregory Stock; Barkeeperin Kimberly Antl; Notfallsanitäte, Feuerwehrmann und angehender Brandmeister Johannes Schön // © Marcel Gregory Stock

„So wie sich die Aschewolken über die Dächer einer Stadt legen, so hat sich auch das Virus ausgebreitet.“ Der Gastronom Carlo Rafti vergleicht den Ausbruch des Corona-Virus mit einem Ausbruch des Ätna. Der Inhaber einer Pizzeria ist eine von 160 Personen, die Model und Fotograf Marcel Gregory Stock im Ende April bei Frederking & Thaler erschienenen Bildband #behindthemask – Menschen hinter Masken. Berührende Einblicke in Zeiten der Pandemie porträtiert hat. Bei den Porträtierten handelt es sich, dem Anspruch von Stock gerecht werdend, in der Tat um einen Querschnitt der Gesellschaft – ob Postbote, Friseurmeister, Krankenpflegerin, Pflegefachkraft, Professor*innen, Politiker, Virolog*innen, Schauspielende, Gastronomen, Mönche, Lokführer, Hausfrauen, Kinder, Drag Queens oder Ärzt*innen, Verlagsmitarbeiter*innen und sogar Hunde, sie alle hat er unter Einhaltung der AHA-Regeln abgelichtet.

Querschnitt und Buntheit

Abgelichtet ist auch insofern passend, als dass Marcel G. Stock seinen Porträtierten Stableuchten in die Hand gibt, um ihre Augen intensiv zum Leuchten, zum Strahlen zu bringen. Was natürlich insbesondere den Bildern einen ganz besonderen Ausdruck verleiht, auf denen die jeweilige Person ihre oft sehr individuelle Maske vor Mund und Nase hat. Zum Beispiel Kimberly, die im Billard-Bistro ihrer ebenfalls abgebildeten Mutter Christina arbeitet, noch ein gezeichnetes Bild beigetragen und sich für das Shooting eine Pestmaske mit schwarzem Lederschnabel aufgesetzt hat. Oder der Sänger Thomas Anders, der eine Fanmaske mit der Aufschrift „#stayhealthy“ („Bleib gesund“) entworfen hat. Grandios auch die Hamburger Drag Queen Geena Tequila, die Blätter vor ihrem Mund-Nasenschutz hat.

Oder der Magdeburger Bischof Dr. Gerhard Feige, der sich zum Jahresbeginn 2020, als nicht nur Stock sein Projekt begann, sondern auch Masken Mangelware und überteuert waren, damit behalf, sich seine Masken aus seinem violetten Pileolus (das Scheitelkäppchen katholischer Geistlicher, mit je nach Rang variierender Farbe) schneidern zu lassen und der ganz bischöflich sagt, eine Notlage könne das Beste, aber auch das Schlechteste zum Vorschein bringen. Etwas Gutes möchte der Gemeinderabbiner der jüdischen Gemeinde in Offenbach am Main, Menachem Mendel Gurewitz, hervorrufen, der sich wünscht, dass wir anderen mit unseren Augen ein Lächeln schenken.

Emotionen und Gedankenanstöße

Neben einzelnen kurzen Zitaten finden sich im Band auch so manch ausführlichere Interviews, die der Journalist und Autor Björn Eenboom, so zum Beispiel mit der Studentin Latisha Dwight, die über ihr Engagement bei der Black-Lives-Matter-Bewegung spricht und meint, Corona wäre kein Hindernis, sich politisch einzusetzen; dem Rentner-Ehepaar Margarete und Bernhard Rompel, die sagen, im Vergleich zu den Nachkriegsjahren wären Corona-Pandemie und Lockdown eher zahm; der Pharmazeutisch-technischen Assistentin Frauke Hagemes, die Corona-positiv getestet wurde; wie auch Gesundheitsminister Jens Spahn, der sein positives Testergebnis einen Tag nach dem Shooting mit Stock erhielt, für den damit eine Odyssee begann, die er im Buch beschreibt. Natürlich auch mit dem unvermeidlichen Karl Lauterbach und der von uns hoch geschätzten Virologin Prof. Dr. Melanie Brinkmann, die sich auch mit ihrem Sohn hat fotografieren lassen und meint, Expertise und Empathie seien Geschwister im Geiste. Schön auch die Aufnahmen und das Gespräch mit ihrem Kollegen Dr. Hendrik Streeck, der mit Hund Sam zu sehen ist und seinem persönlichen Helden, seinem Ehemann, mit herzlichen Worten dankt.

Weniger herzlich sind die Einlassungen von Prof. Dr. Sucharit Bhakdi, der als einziger keine Maske trägt, da diese uns schaden und unser Leben verkürzen würden. Der Facharzt für Mikrobiologie und Infektionsepidemiologe tritt übrigens als Bundestagskandidat für die der Querdenker-Bewegung nahestehende und nicht nur über Doppelmitgliedschaften mit der AfD verbundene Partei „Die Basis“ an. Wenigstens nennt er jene, die den Maßnahmen folgen, im Gespräch nicht direkt „Schlafschafe“. In seinem sehr lesenswerten Vorwort kündigt der Kriminologe Dr. Mark Benecke den Maßnahmenkritiker Bhakdi nicht ganz ohne kritische Anmerkung an. Auch ein wenig komisch sind die Aussagen des selbstständigen Gastronomen Michael Gutermuth, der ein Restaurant mit Eventmöglichkeiten betreibt, die Politik scharf kritisiert und sich fragt, ob denn Bundeskanzlerin Angela Merkel noch eine Verbundenheit zum Proletariat habe. Die Frage könnten wir sicherlich auch an ihn richten, denken wir uns.

Kipppunkte und Kostbarkeiten

In seinem Vorwort schlägt Benecke übrigens auch den Bogen zu den Herausforderungen nach und/oder trotz Corona, die nicht aus dem Blick geraten sollten. So beispielsweise, dass die Kipp-Punkte für die Eisschmelze während der Coronazeit überschritten worden sind, was sich erschreckend zu einer Information am Ende des Bandes fügt: 2020 sind 1,5 Milliarden Masken als Abfall in die Weltmeere gelangt. Einen Wink gibt Benecke auch in Richtung der „Nasenbären“, jener Normalos, die die Maske unter der Nase tragen und meinen, eine Umarmung sei schon nicht so schlimm. Dazu passt die Äußerung des natürlich ebenfalls abgebildeten Interviewers Eenboom, der sagt: „Wenn wir das Ausmaß betrachten, das Corona angerichtet hat, sollten wir […] uns selbst anblicken. Mögen wir künftig mehr achtgeben aufeinander und auf die Natur, in der wir leben.“ 

Pflegefachkraft Alexandro Alex Kuzzo und Lokführer Eloy Perez Waldes // © Marcel Gregory Stock

Eingerahmt wird das Projekt, das 305 Tage in Anspruch nahm, eine Reise in über 40 Städte bedeutete und insgesamt 25 486 Bilder hervorbrachte, durch Worte von Marcel Gregory Stock, aufgezeichnet und niedergeschrieben durch Björn Eenboom, in denen er zu den jeweiligen Jahreszeiten und zum Entwicklungsstand von Corona und den aktuellen Geschehnissen schreibt, dabei auch die Erlebnisse und Schicksale einzelner Porträtierter einfließen lässt.

Vielseitig sind aber natürlich nicht nur die Auswahl der Personen und die gewählten Interviews und Zitate – so machen einige Personen eine gewachsene Verbundenheit aus, andere wiederum empfinden die Gesellschaft nun als gespaltener – sondern vor allem die Bilder als solche, die natürlich den künstlerischen Wert von #behindthemask ausmachen. Stock hat ganz klar einen guten Blick für die Menschen, ihre Gefühle und wie er diesen vor allem durch die Augen in seinen Fotografien Ausdruck verleihen kann. Es lohnt sich, die Aufnahmen eingehender zu betrachten, womöglich auch erst einmal, bevor man sich den oft mit dem Bild verbundenen Aussprüchen widmet. Sich also unvoreingenommen ein Bild vom Bild und der porträtierten Person macht, sich überlegt, was die- oder derjenige in jenem Moment im Kopf hat, was sie oder er fühlt, was sie oder ihn umtreibt. Manchmal natürlich liest man die Aussage ganz automatisch, wenn sie zum Beispiel so prägnant ist wie bei dem Stand-Up Comedian und Autoren Felix Lobrecht: „Arbeitslos since März 2020.“

Am Ende dieses wirklich schönen, hochwertigen, ästhetisch wie zeithistorisch kostbaren Bildbands, der sich am besten zu einem Album der Beatles durchsehen lässt, stehen schließlich die Worte des optimistischen und wohl ziemlich emphatischen Fotografen: „Alles wird gut.“ 

AS

PS: Hier findet ihr ein schönes Gespräch vom 1. November 2021 mit Marcel Gregory Stock zur Entstehung des Buches im hr2-Podcast Doppelkopf.

Marcel Gregory Stock: #behindthemask – Menschen hinter Masken. Berührende Einblicke in Zeiten der Pandemie; Interviews und Texte: Björn Eenboom; 224 Seiten; ca. 220 Abbildungen; Hardcover; Format: 19,3 x 26,1 cm; ISBN: 978-3-95416-346-5; Frederking & Thaler Verlag; 24,99 €

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