Liebe in Zeiten des Swiping

Corona hat uns in fast allen Bereichen unseres Lebens aus der Bahn geworfen. Maske tragen und Abstand halten, wo wir einander nahekommen wollen, hielten davon ab, einander richtig kennenzulernen. Den oder die Richtige zu finden war so eine lange Zeit fast ein Ding der Unmöglichkeit. Und für viele ist das bis heute so.

Bereits vor zwei Jahrzehnten hat aber die digitale Revolution das Dating-Verhalten mehr und mehr verändert. Auf einschlägigen Seiten oder – seit etwa zehn bis 15 Jahren – via Dating-Apps versuchen viele Nähe, Zärtlichkeit und die große Liebe zu finden. Die Torschlusspanik ließ viele zunehmend rastlos werden, hat das Liebesleben vieler Menschen beschleunigt und nicht immer zu Zufriedenheit geführt.

Rastlos

Eine gewisse Rastlosigkeit scheint auch Oliver Polak zu verspüren oder zumindest sein gleichnamiger Hauptcharakter in L’amour numérique – Und täglich grüßt die Liebesgier, das Ende 2022 bei Suhrkamp erschienen ist. Sein Charakter tourt durch die Irrungen der Datingwelt und versucht, die Richtige fürs Leben zu finden – oder zumindest für den nächsten Teil des Lebens.

In 20 Kapiteln zuzüglich Epilog und Playlist zur stets sehr präsenten Musik begleiten wir den Hauptcharakter sowie die eigentlich große Liebe seines Lebens – seinen Hund Toto – bei seiner Suche nach etwas Beständigem. Etwas, das über das permanente Links-und-Rechts-Wischen hinausgeht. Etwas, das ihn zufriedener in seinem Leben als… ja, als was eigentlich? sein lässt.

Dating um die Welt

Corona ist hier natürlich auch ein Thema. Eine Escort-Dame, der er unterwegs begegnet und ihr für ein paar Tage in Berlin Obdach gibt, beispielsweise musste während der Pandemie auf großes Business verzichten. Oliver wiederum fliegt und fährt durch halb Europa und sogar darüber hinaus, um die Eine zu finden, die er als sein Gegenstück bezeichnen kann.

Immer wieder kehrt er nach Paris zurück, meist in dieselbe Ecke, und frequentiert dieselben Lokale. Nach Barcelona geht es kurz und einmal sogar nach Brasilien, wo er – scheinbar Sklave seiner Aufregung oder seiner Hormone – nicht nur ein wenig abgezockt wird. Immer dabei (außer in Brasilien) ist Hund und Langzeitbegleiter Toto, der seit etwa 15 Jahren immer an Olivers Seite ist.

Beklemmend und befreiend

Es geht aber auch immer wieder in die Vergangenheit des jungen Oliver. Der erste Schwarm, den er auf einem Jahrmarkt im Urlaub an der Nordsee kennenlernt, stellt sich bei einem späteren Besuch im Münsterland als antisemitisch heraus, der erste Besuch bei einer Prostituierten hat gleichzeitig etwas Beklemmendes und dennoch auch Befreiendes für ihn.

Über allem schwebt ein wenig die Erziehung, die scheinbar eher konservative Einstellung der Eltern und gerade der Mutter, die Oliver in seinem Kopf herumspukt. Während Toto ihm seit Jahren verlässlich Beständigkeit gibt, sind es die Geister der Vergangenheit, die ihn recht rastlos erscheinen lassen. Dass Toto zunehmende Anzeichen von Altersschwäche zeigt, blendet Oliver nicht aus – im Gegenteil, seine Rastlosigkeit bei der Suche nach einem passenden Gegenstück dürfte es eher befeuern.

Liebessuche in Episoden

Auf gerade einmal etwas mehr als 100 Seiten jagt uns der Erzähler hier durch manche Episode seines Liebeslebens. Fast so rastlos wie das permanente Swiping am Smartphone sehen wir in diesem bereits vom Autoren so bezeichneten Episodenroman, was seinen Charakter auf der Suche nach der wahren Liebe antreibt.

Das bleibt zwar doch diffus, weiß Roman-Oliver doch scheinbar selbst nicht so genau, wonach er sucht. Oder er teilt es uns nicht mit. Bis auf die Episode mit der judenfeindilchen Kurzzeitliebe vom Jahrmarkt hören wir wenig über vergangene Beziehungen, lernen nicht, wo der Charakter in der Vergangenheit vielleicht enttäuscht oder geprägt wurde. Es bleibt daher im Vagen, was ihn antreibt und wen er sucht – so wie das für viele von uns, die auf der Suche sind, wohl sein dürfte.

Verlangen nach Zweisamkeit

Was aber immer durchschimmert, sind das Verlangen nach Zweisamkeit, die Rastlosigkeit in Zeiten der schnell verfügbaren „Liebe“, deren Vergänglichkeit und die Sehnsucht nach Beständigkeit. Toto steht stellvertretend für diesen Wunsch und sein sich ankündigendes Ende lässt Oliver mit umso mehr Dringlichkeit suchen.

Das scheint alles in allem sehr aus dem Leben vieler von uns gegriffen zu sein. Oliver Polak hat mit L‘amour numérique etwas anderes, als den gewöhnlichen Dating-Roman geschrieben, auch nichts, was gezwungen auf ein Happy End hinarbeitet. Es ist eher die Atmosphäre, die er in diesem Episodenroman schafft und beschreibt, die in uns ein Mitfühlen mit dem Hauptcharakter hervorruft. Vielleicht ist das nicht der ganz große Wurf, aber es dürfte der Realität vieler nach Zuneigung Suchender sehr nahekommen.

HMS

Oliver Polak: L‘amour numérique; Oktober 2022; 109 Seiten; Klappenbroschur; ISBN 978-3-518-47278-1; suhrkamp taschenbuch; 15,00 €

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